Café Kolibri

von Erwin Grosche

Erwin Grosche - Foto © Frank Becker
Café Kolibri
 
Bruno Atzfeld hatte sich genau überlegt, was er tat, als er aufstand, um diese ihm so traute Atmosphäre in Frage zu stellen. Es ist nicht leicht, sein Lieblingscafé so herauszufordern, daß weitere Besuche vielleicht für alle Zeiten dieser Welt unmöglich wurden. Gab es ein Leben ohne Holländer Kirsch, dieser einzigartigen Blätterteigsünde, die er in dieser Form, auf diesem Niveau, nur hier im Café Kolibri vorgefunden hatte? Bruno Atzfeld war bereit zu glauben, daß das Café Kolibri nur so überraschen konnte, weil seine Gäste so überraschend waren und diese Torten- und Teilchenqualität einforderten durch ihren hohen Genußanspruch. Er stand also auf, räusperte sich laut und störte unverzeihlicherweise diese Kaffeehausseligkeit:
„Liebe Freunde und Freundinnen. Entschuldigen Sie mein Aufstehen und diese Störung. Ich weiß, die Ruhe in einem Café ist heilig. Stille, Genuß und Muße sucht man in diesem süßen Nichts und der Aufruhr ist dabei ein nicht gern gesehener Gast. Doch es gibt Gründe, diese Maximen in Frage zu stellen, es gibt Umstände, die es erfordern, einmal laut zu sein, um Ihre Anteilnahme einzuklagen in dieser stillen Welt, in der so manches Menschliche so unbemerkt an einem vorüberzieht, daß es nicht berühren konnte.“
Bruno Atzfeld hoffte, nicht zu gestelzt zu klingen, aber wie konnte man zwischen Wiener Apfelstrudel, Champagner-Trüffeln, Torte, Lübecker Nußkuchen und Holländer Kirschstückchen normal klingen mit der Laudatio eines Liebenden? Er wollte seinen Platz in dieser Welt zurückerobern und hoffte auf die Absolution dieser Gäste. Er schaute sich um und sah, daß alle ihm zuhörten. Gut.
„Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit“, sagte er. „Ich möchte Ihnen von einem Erlebnis erzählen, das mir noch immer das Herz schneller pochen läßt und für alle begreifbar meine Beziehung zu Katja Galinski beleuchten wird.“
Die japanische Bedienung brachte Bruno Atzfeld einen Kaffee und wußte nicht, wo sie die Tasse abstellen sollte, da nahm er den Kaffee in die Hand, trank ihn stehend aus und gab ihr die leere Tasse lächelnd zurück. So gestärkt sprach er weiter:
 „Wie so oft traf ich mich mit Katja Galinski in unserem Lieblingscafé, diesem Café Kolibri am Siebensiegelplatz. Wir tranken einen Kaffee und einen Kakao, aßen jeder ein Stück Holländer Kirsch und redeten ausgelassen über dies und das. Katja sagte, daß der Holländer Kirsch zu den Menschendingen gehört, auf die wir stolz sein könnten, weil er geschaffen wurde, um uns gut zu tun und an Frieden zu mahnen.
Wir lachten viel, manchmal berührten sich unsere Arme wie Lippen, und manchmal schauten wir uns an und vergaßen erstaunt, was wir sagen wollten, als wenn dies wichtig gewesen wäre. Dauernd erzitterten wir vor dem anderen, als wären wir erschrocken vor Glück und hätten Angst, in diesem Augenblick allein zu träumen.
Schließlich sagte ich zu Katja Galinski: „Liebe Katja Galinski, es ist doch sonderbar, daß wir beide, weithin bekannt als junge und aufgeklärte Menschen, hier im Café Kolibri am Siebensiegelplatz sitzen, einen Kaffee und einen Kakao trinken und dazu jeder ein Stück Holländer Kirsch verspeisen und über dies und das reden und dies wahrscheinlich auch noch in zehn Jahren tun werden, wenn nicht ein gütiger Gott mit uns ein Einsehen haben wird.“ Und weiter fuhr ich fort: „Liebe Katja Galinski, wäre es nicht tatsächlich an der Zeit, uns vor Leidenschaft die Kleider vom Leibe zu reißen, um das zu vollziehen, wonach uns seit langem der Sinn steht? Verpflichtet uns nicht die Unschuld der Jugend zu solchen Übertreibungen?“
Bruno Atzfeld hielt inne. Alle Kaffeehausgäste hingen wie gebannt an seinen Lippen. Er winkte der Bedienung, um noch einen Kaffee zu bestellen, und sprach weiter:
„So sprach ich und fürchtete schon, zu grob das besänftigte Tier in uns gereizt zu haben, als Katja Galinski mir nach einigem Überlegen mit entwaffnender Unschuld entgegnete, daß die Liebe sich in vielen Handlungen offenbart und gerade der Holländer Kirsch des Café Kolibri auf dem Siebensiegelplatz in sich einen vollkommenen Kosmos darstellt, der täglich erneuert wird, um sich uns als Geschenk anzubieten. „Dieses Holländer Kirsch-Wunder“, sagte Katja Galinski, „kann uns niemand nehmen und ist deshalb längst nicht so vergänglich wie Jugend und Leidenschaft.“
Die japanische Bedienung brachte Bruno Atzfeld seinen Kaffee, er leerte die Tasse in einem Schluck und gab sie danach zufrieden wieder zurück. Er sprach lächelnd weiter:
„Ich sah Katja Galinski an. Ich sah meine kluge Katja Galinski an und wußte, daß sie Recht hatte. Katja Galinski hatte mit allem, was sie gesagt hatte, völlig Recht. Natürlich, sich ein Holländer Kirschstück munden zu lassen, weist den Tod in die Schranken. Der glaubte doch schon, leichtes Spiel zu haben, er hielt uns für satt und bequem, bis er den Blätterteig vom Holländer Kirsch zersplittern hörte und spürte, wie gut uns die Freude tat und wie wir gestärkt aufs Leben schauten.
Ich hatte das vergessen und war froh, mit dieser schönen und leidenschaftlichen Frau einer Meinung sein zu dürfen. Katja Galinski hatte Recht, das war sicher. Und so saß ich neben ihr und redete weiter über dies und das und spürte, daß Katja Galinski mir vergeben hatte und wir weiterhin unserer besonderen Leidenschaft nachgehen konnten, hier am Siebensiegelplatz, hier im Café Kolibri, denn was sollte uns in aller Ewigkeit beunruhigen. Wo es Torten gab, da gibt es Gott.“
Bruno Atzfeld schaute sich um. Er hatte alles gesagt, was es zu sagen gab. Er spürte das Schweigen und er spürte, daß es ein zustimmendes Schweigen war. Plötzlich fing hinter ihm jemand an zu klatschen. Bruno Atzfeld verneigte sich. Nach und nach fielen alle in den Applaus ein und standen dabei auf. Bruno Atzfeld lächelte, hielt dann den rechten Zeigefinger an die Lippen und machte überglücklich ein alles abschließendes „Pssssst!“
 
 
© Erwin Grosche – aus „Lob der Provinz“