„Sie hat ihre Serviette gefaltet!“

„Licht im Dunkel“ von William Gibson im TalTon Theater

von Frank Becker

Helen Keller und Annie Sullivan - Courtesy of the Thaxter P.
Spencer Collection, R. Stanton Avery Special Collections,
New England Historic Genealogical Society-Boston

„Sie hat ihre Serviette gefaltet.“
 
„Licht im Dunkel“ von William Gibson
Das Drama um Helen Keller
 
Regie: Jens Kalkhorst – Bühne: Rüdiger TepelMaske: Sandra Kremer
Besetzung: Helen Keller (Svenja Dee) - Annie Sullivan (Angela del Vecchio) - Kate Keller (Tabea Schiefer) - Captain Keller (Jens Kalkhorst) - Tante Eve (Sigrid Möllmer) - James Keller (Moritz Heiermann) - Haushälterin Viney (Stephanie Spichala) - Martha (Stina Schnickmann) - Percy (Miriam Kalkreuth) - Jimmy Sullivan (Moritz Stursberg)
 
Premiere am 1.4.2017 - Zwei Stunden, zehn Minuten - eine Pause.
 
„Es hat sich etwas sehr Wichtiges zugetragen. Helen hat gelernt,
daß jedes Ding einen Namen hat und daß das Fingeralphabet
der Schlüssel zu allem ist, was sie zu wissen verlangt.“
(Annie Sullivan)
 
Die bewegende Geschichte der Helen Keller (1880-1968) ging um die Welt. Im Alter von nur 19 Monaten verliert das Kind Gehör und Augenlicht, bleibt von da an auf seinen Tastsinn angewiesen – und wird dank der energischen Lehrerin Annie Sullivan (1866-1936) dennoch zu einer großen  Persönlichkeit. Ihr Schicksal und Leben wurden zum Stoff von Büchern und Filmen und 1959 von William Gibsons Drama „Licht im Dunkel (The Miracle Worker)“. Sehenden und hörenden Menschen nahezubringen, wie ein taubes und blindes Kind, dem auch die Sprache nicht gegeben ist, die Welt um sich herum erfährt, ist ein gewaltiges Vorhaben, das Gibson mit seinem Stück beeindruckend gelang. Das und seine Charaktere angemessen auf die Bühne zu bringen, verlangt von Inszenierung und Ensemble gewaltiges Fingerspitzengefühl. Im Wuppertaler TalTon Theater gelang das am vergangenen Samstag bei der Premiere von „Licht im Dunkel“ a la bonheur. Von der packend gestalteten stummen Eingangsszene der leeren, stillen Welt des taubblinden Mädchens bis zum Schlußvorhang blieb der hohe Spannungsbogen erhalten.
 
Starke Charaktere
 
Annie Sullivan (Angela del Vecchio), eine erst 21jährige, selbst ehemals blinde Lehrerin aus Boston stellt sich mit dem Mut der Jugend der Aufgabe, die von Dunkelheit und Stille umgebene Isolation der siebenjährigen Helen (Svenja Dee) aufzubrechen, mit Hilfe eines Finger-Alphabets eine Kommunikation mit dem aggressiven, sich kaum artikulierenden Kind aufzubauen, dessen Intelligenz sie schnell erkennt. Ihre Mittel sind modern, ungewöhnlich, ja radikal und laufen in Teilen dem Verständnis der liebenden Eltern Kate Keller (Tabea Schiefer) und Captain Keller (Jens Kalkhorst) zuwider. Annie Sullivan setzt sich durch, auch gegen die die Skepsis, die ihr in Alabama im Süden der USA wegen ihres Alters und ihrer Nordstaaten-Abstammung entgegengebracht wird. Jens Kalkhorst als ehemaligem Konföderierten-Offizier gelingt dabei eine nachgiebige Ruppigkeit, die dem schweren Stoff eine gewisse Leichtigkeit einhaucht. Moritz Heiermann entwickelt als Helens Halbbruder James dessen zunächst unter den Druck der Gehorsamkeit gebrochenen Charakter im Prozeß der Selbstfindung zu männlicher, einsichtiger Stärke.


Sie hat ihre Serviette gefaltet!" - v.l.: Tabea Schiefer, Svenja Dee, Angela del Vecchio - Foto © Hermann Aldejohann
 
Solo für drei Damen
 
Das ganz große Gewicht auf der Bühne aber teilen sich Svenja Dee, Angela del Vecchio und Tabea Schiefer mit darstellerischer Brillanz in hoch emotionalen Einzel- und Gemeinschaftsleistungen, in einer bestechenden Palette der Emotionen.
Angela del Vecchio vermittelt mitreißend und durchaus auch mit Witz den jugendlichen Elan der idealistischen Lehrerin, ihre Durchsetzungskraft gegenüber Helen und deren Familie, ihre Hoffnungen und Überzeugungen, aber auch Zweifel und Ängste. Ins Aktuelle eingeflochten erscheinen belastende, jedoch auch antreibende Bilder ihrer eigenen schweren Kindheit, die begreifen lassen, weshalb Annie Helen nicht im Stich lassen wird.
Ihre „Gegenspielerin“ Svenja Dee hat es als Helen ungleich schwerer, die nahezu autistische Aggression des scheinbar rettungslos in sich gefangenen, zwar intelligenten, doch mit normalen Mitteln unerreichbaren Kindes fühlbar zu machen. Sie schafft es mit enormer Intensität, erschütternd und tief berührend. Das Essen mit einem Löffel, das Falten einer Serviette, bis dahin für unmöglich gehalten, werden erste Stationen auf dem Weg zum Erfolg. Gemeinsam zeigen die beiden Frauen in dramatischem Dialog eine unerhört präzise getaktete Meisterleistung. Hut ab!
Die dritte faszinierende Frauenfigur ist Kate Keller, die von Tabea Schiefer mit Wärme und versteckter Stärke gegeben wird. Das Ringen um das Wohl ihres Kindes, ihre anfängliche Zurückhaltung und das schließlich wachsende Vertrauen zu Annies Methode, die Gratwanderung zwischen Tradition und Einsicht weiß Tabea Schiefer zu Herzen gehend zu zeigen.


v.l.: Svenja Dee, Angela del Vecchio - Foto © Hermann Aldejohann
 
Jens Kalkhorsts sensible Inszenierung ist enorm kräftezehrend, vor allem für diese drei Darstellerinnen. Aber auch für ein aufmerksames Publikum, das am bewegenden, äußerst nahegehenden Ende (Taschentuchalarm!) zu Recht mit Applaus und Bravi nicht sparte. Und wer gar schließlich ein Tränchen verdrückte, mußte sich dafür nicht schämen.

„Helen stand heute früh wie eine strahlende Fee auf.
Sie flog von einem Gegenstande zum anderen, fragte nach
der Bezeichnung jedes Dinges und küßte mich vor lauter Freude.
Alles mußte jetzt einen Namen haben.“
(Annie Sullivan)
 
Helen Keller lernte, die Welt und ihre Mitmenschen auch ohne Gehör und Augenlicht zu erfahren und zu akzeptieren; Lehrerin und Schülerin blieben bis zu Annies Tod 1936 („…für immer und ewig“) Gefährtinnen.
 
Weitere Informationen: http://taltontheater.de