Der Abend ist eine Schande.

„Liebesgeschichten und Heiratssachen“ von Johann Nestroy am Wiener Burgtheater

von Renate Wagner

Wien – Burgtheater:
Liebesgeschichten und Heiratssachen
von Johann Nestroy

Premiere: 13. April 2017
 
Wenn Regisseur Georg Schmiedleitner im Zusammenhang mit seiner Inszenierung von „Liebesgeschichten und Heiratssachen“ die Behauptung aufstellt, Johann Nestroy würde heute „ein kleiner Schlingensief sein“, kann man das ruhig in den Bereich der dummen Ideen verweisen (sogar der saudummen in Hinblick auf die Inszenierung, die so gerne mit Hilfe von Säuen scherzt und das lustig findet): Dazu hatte Nestroy viel zu viel Theaterverstand und gesunden Menschenverstand dazu.
Wollte man kurz charakterisieren, was Leute wie Schmiedleitner unter dem Vorwand, Nestroy zu inszenieren, bieten, darf man kurz den großen Kollegen Gerhard Stadelmaier (nicht daß man sich mit ihm vergleichen wollte) aus seinem Roman „Umbruch“ zitieren: „… das sei wohl weniger Regietheater, mehr ein ‚Regisseurtheater’, weil es in das Stück nicht mit Hilfe von Regie eindringe, sondern es mit dem plattmache, was dem Regisseur so durch die Rübe rausche“.
 
Was ist „Liebesgeschichten und Heiratssachen“? Erst einmal ein sehr gutes Nestroy-Stück. Das nicht wirklich von Liebe handelt und von der Ehe nur so nebenbei, sondern vor allem von Geld. Nestroy war viel zu gescheit, um nicht zu wissen, daß dieses immer und ewig der Motor des menschlichen Geschehens war, ist und sein wird.
Ein Stück voll von prachtvollen Figuren. Nebel: ein Tunichtgut, wie es sie immer gibt, Betrüger und Schmarotzer, begabt mit einer gewissen Suada, die es ihm ermöglicht, die Mitwelt ja doch hineinzulegen. Florian Fett, „a Fleischhauer“, der zu Geld gekommen ist und jetzt den feinen Herrn spielen will, der mit Geld allerdings nicht zu kaufen ist – ein in der Wolle gefärbter Prolet, zudem strohdumm (letzteres hat er mit großen Theaterkollegen, etwa dem Bürger als Edelmann oder dem Bauer als Millionär gemeinsam). Der Marchese Vincelli: so viel Hochmutsdünkel, daß er nicht weiß, wie er gehen und stehen soll, und nur mit Schauder an die ordinäre Welt der Durchschnittsmenschen anstreift. Lucia Distel: die dünkelhafte ältliche Jungfer mit Geld, viel zu dumm, um zu erkennen, daß es nicht um ihre (von ihr selbst so hoch geschätzte) Person geht, sondern nur um ihr Geld, wenn ein junger Mann um sie herumwieselt. Dazu ein paar junge Leute, verliebt und um ihre Beziehungen kämpfend (darunter eine recht drollige Tochter, die unter der Pose des „Gehorsams“ dem Vater ganz schönen Widerstand entgegensetzt). Ein Stubenmädchen, das alles über Männer und Menschen weiß. Ein Wirt, immer das Geld im Blick, eine Wirtin, die auch mal ein Auge zudrückt, wenn man ihr schöne Augen macht. Ein paar Bediente. Ein perfektes Ensemble. Und alles echte Menschen, denen man in ihrer Grundstruktur heute noch so begegnen könnte.
 
Auf der Bühne des Burgtheaters begegnet man ihnen nicht, dort hat Georg Schmiedleitner sie gnadenlos zu einer wild herumblödelnden Horde von Dodeln gemacht. Das Stück zerbirst in allen seinen Qualitäten, ist stellenweise nicht mehr zu erkennen, weil man angehalten ist, über selbst fahrende Sofas, veitstanzende Kunstfiguren, ein Klo auf der Bühne zu lachen (warum wird es eigentlich nicht benutzt? Bei David Bösch im „Talisman“ stürzt wenigstens jemand mit herausquellenden Gedärmen aus dem Häuschen, das ist doch was!).
Verfremdung, Stilisierung, Slapstick, Blödelkolonne, da bleibt nichts übrig, kein Nestroy-Mensch, nichts von der Brillanz der Sprache (sie wird sogar auffallend verschmiert, keine Spur von dem „Kampfmittel“, das der Regisseur im Interview postuliert), nicht einmal die Handlung bleibt, die so verblödet verwischt wird, daß man sie stellenweise kaum erkennt.
Und, das treibt dem wahren Nestroy-Freund genau so die Tränen in die Augen wie das, was er mitansehen muß: ein Premierenpublikum, das Großteils über all den Schwachsinn hellauf lacht (ja, allzu viel Fernsehen gefährdet das Urteilsvermögen) und am Ende heftig applaudiert. In Wien. Nestroys Stadt. Im Burgtheater, wo man legendäre Aufführungen gesehen hat, die gar nicht kitschig (?) waren, wie Schmiedleitner unterstellt. Sondern sehr klug, treffend, satirisch, böse in ihrem Erkenntnisgewinn. Und dann das…
 
Ja, und verdammt häßlich ist es auch, hier im Bühnenbild von Volker Hintermeier und in den Kostümen von Su Bühler. Eine Drehbühne zwecks Abstraktion (wie schon damals, als Georg Schmiedleitner 2001 an der Burg so gar nicht überzeugend den „Zerrissenen“ inszenierte) – wie oft haben wir schon Plastikvorhänge flattern gesehen? Eine stilisierte Nicht-Welt, ein Pavillon, irgendwelche Flamingos (die pissen auch), Rummelplatz-Lichterketten, ach ja, das Klo und das automatisch fahrende Sofa. Wie lange leben wir eigentlich schon mit dem Irrtum der Theaterleute, optische Verhäßlichung der Szene sei auf jeden Fall ein Garant dafür, modern und zeitgemäß zu sein? Diese alte Verwechslung von Regie und Bühnenbild hat dem Publikum schon viele scheußlich anzusehende Abende auf dem Theater beschert. Auch diesmal.
 
Nestroy müsse nicht Wienerisch klingen, behauptet Georg Schmiedleitner weiters. Ach, wirklich? Nun ja, er hat ja auch kaum Wiener auf der Bühne, also ist das eher eine Schutzbehauptung zur Schadensbegrenzung. Die Qualitäten von Markus Meyer hat man oft genossen und gewürdigt. Aber als Nebel ist er eine glatte Nullnummer. Nicht nur, daß sein Versuch, Nestroys Sprache zu bewältigen (gar ein Wienerischer Schlenker hier und da? O Gott), mit Karacho mißlingt (wie lange ist er schon in Wien? Seit 2004? Für mehr reicht es noch nicht?), er weiß auch mit dem Text überhaupt nichts anzufangen, was er mit dem Regisseur gemeinsam hat. Kurz, das Stück dreht sich nicht um Nebel, der doch bei Nestroy der Motor des Geschehens ist. Hier wirken sogar die an sich gar nicht so stark gezeichneten jungen Liebhaber (Christoph Radakovits und Martin Vischer, der Schwyzern muß, als wären wir in der Operette) stärker als er.
 
Florian Fett, im goldenen Anzug, der Tiroler Zungenschlag immer wieder durchblitzend – Gregor Bloéb, dessen Neigung zum Nonsens in Theater und Film verbürgt ist, zerreißt sich, um hier einen verrückten Zappelphilipp, nicht aber eine begreifliche Gestalt auf die Bühne zu stellen. Und was den Marchese Vincelli betrifft – ja, da hätte man einen im Haus. Er heißt Peter Matic und könnte zu seinem 80er eine Rolle wie diese vertragen. Aber nein, er spielt den Wirt – mit Tätowierungen an den Armen, Strizzifrisur, Ganovenkluft, fremd und sinnlos in der Nebenrolle. (Das Burgtheater hat offenbar keine Geschenke an seine letzten großen Schauspieler zu verteilen.) Als Marchese Vincelli sieht man Dietmar König. Auch wenn man den Mund zusammenpreßt, um seine großen Vorgänger nicht zu nennen – das ist denn doch ein bißchen dürftig. Ein künstlicher Komik-Versuch, mehr als bescheiden.
Und da ist Regina Fritsch als Lucia Distel, eine der großen Altjungfern-Rollen, die Nestroy schrieb und die so meisterliche Aufgaben darstellen. Regina Fritsch hat in ihrem Schauspielerleben eine eigene große Nestroy-Tradition, sie weiß, wie es geht: Wie fühlt sie sich eigentlich, diese verblödete Quietscherpuppe mit Riesenbrille und künstlicher Dummheit (die echte Dummheit ist viel schöner) auf die Bühne zu schmieren?
 
Hat das Burgtheater Mangel an jungen Mädchen? Gerade Marie-Luise Stockinger, die aus der renitenten Fanny so gut wie nichts herausholt, hat das Alter für die Figur. Stefanie Dvorak, die aus der an sich zauberhaft gemeinten Ulrike einen quiekenden Trampel macht, und Alexandra Henkel als spätes Stubenmädchen sind ein bißchen reif für ihre Rollen, die Wirtin der Elisabeth Augustin stimmt hingegen zumindest vom Alter. Und Robert Reinagl sieht in allen seinen Nebenrollen gleich dämlich drein. Nicht anzuhören ist auch die Musik (Matthias Jakisic), sofern man die unguten Geräusche so bezeichnen mag.
 
Das war’s. Man hat nicht eine Art von Humor durch eine andere, zeitgemäßere ersetzt (als ob es Besseres gäbe als Nestroy pur), man hat unter aufgeblasenen Vorwänden („Alle Figuren sind glücksuchende, verirrte Menschen, die nichts anderes wollen, als in der Gesellschaft aufzusteigen“, was schon deshalb nicht stimmt, weil sich das absolut nur auf Nebel bezieht!) einfach primitivste Holzhammer-Komik bedient, nur auf billige Lacher, nicht eine Sekunde auf echte Erkenntnis aus. Mit Sicherheit rotiert Nestroy in seinem Grab am Zentralfriedhof. Der Abend ist eine Schande.
 
Renate Wagner