Ein Sehnsuchtsbuch

Paolo Cognetti – „Fontane No. 1“

von Frank Becker

Ein Sehnsuchtsbuch
 
 
Im Walde zwei Wege boten sich mir dar
 und ich ging den, der weniger betreten war
- und das veränderte mein Leben.
 
Walt Whitman
 
Es klingt nach einem Klischee: Ein Mann läßt das aufreibende Leben in der Großstadt und seine sich in Kraftlosigkeit äußernde Schaffenskrise hinter sich, indem er sich für einen langen Sommer in die Abgeschiedenheit der Natur zurückzieht. Das haben ähnlich schon andere getan und Bücher darüber geschrieben, man denkt exemplarisch natürlich sofort an Henry David Thoreaus „Walden“. Unser belesener Freund, dessen Buch ich Ihnen hier vorstellen darf, tut das auch. Also an Thoreau denken und ein Buch über seine Zeit in der Natur schreiben. Der in Mailand lebende Schriftsteller Paolo Cognetti (*1978), sich auf seine jährlichen Ferienaufenthalte in den Bergen als Kind und junger Erwachsener und auf die Lektüre Thoreaus, Jon Krakauers, Mario Rigoni Sterns, Chris McCandless und anderer besinnend, sieht in dieser kleinen, aber wohldurchdachten Flucht die Möglichkeit, den Knoten zu durchschlagen, der ihn fesselt.
 
Er unternimmt die Fahrt, mit einigen wichtigen Büchern im Gepäck, darunter die Gedichte Antonia Pozzis, zehn Jahre nach seinem letzten Aufenthalt im Gebirge, als eine Reise ins Selbst, die ihn für fast sieben Monate geradezu organisch mit einer einfachen Hütte auf 2000 Metern Höhe, der Stille in den Bergen und den Geräuschen der Natur verbinden und unerhört bereichern wird. Die Lektüre seiner knappen, gradlinigen Aufzeichnungen jener Monate, seine einfache, dem Gegenstand seines Buches angepaßte klare Sprache wiederum bereichert den Leser. Mir jedenfalls ging es so, daß ich mich schon nach wenigen Minuten im Lesesessel an der Seite des Wanderers fand, seine Schritte und Wege durch fremdes Gelände mit ihm tat, seine Entscheidungen an Weggabelungen mit ihm teilte und mit ihm die wenigen Menschen und Tiere kennenlernte, die ihm während der Zeit in den Bergen Gefährten und Kameraden wurden. Man schaltet schon bald beim Lesen einen Gang zurück, beginnt zu begreifen und den Mutigen um seinen leichten Verzicht auf das Überflüssige zu beneiden.
 
Wer weiß, wie erhaben und rauh, gleichermaßen aber auch lieblich und gastlich sich die Bergwelt dem aufmerksamen Betrachter und Wanderer darbietet, wird Paolo Cognettis „Entschleunigung“ verstehen, genau wissen, wie bald man mit so viel weniger, vor allem ohne elektronische Kommunikation auskommt, in einer natürlichen Umgebung tatsächlich zu sich selber finden kann. Cognetti findet dieses Geschenk, denn es ist in der hektischen, atemlosen Zeit eines von unschätzbarem Wert, in einer Hütte des aufgelassenen Dorfes Fontane, der letzten am Weg mit der No. 1. Dorthin und zu Gemsen und Steinböcken, Murmeltieren und Hasen nimmt er den Leser mit, läßt an der Begegnung mit den Wenigen teilnehmen, die wie er dort den Sommer mit harter Arbeit fristen sowie an den Erinnerungen an Remigio, den Bergführer seiner Kindheit.
 
Eingeflochten in das schmale, nichtsdestoweniger wertvolle Buch sind einige von Barbara Sauser neu übersetzte Gedichte von Antonia Pozzi (1912-1938), die Lust auf mehr ihres kurzen lyrischen Schaffens machen.
Nach S. Corinna Billes Büchern Von der Rhone an die Maggia“ und „Theoda“ aus dem Rotpunktverlag ein weiteres Glanzlicht der Bergliteratur. Paolo Cognettis Sehnsuchtsbuch „Fontane No. 1“, unser Buch des Monats, bekommt aus übervollem Herzen unsere Auszeichnung, den Musenkuß.
 
Paolo Cognetti – „Fontane No. 1“
Ein Sommer im Gebirge
Aus dem Italienischen von Barbara Sauser
© 2017 Rotpunkt Verlag, Edition Blau, 143 Seiten, gebunden, Lesebändchen
ISBN 978-3-85869-740-0
18,- € / 20,- sFr
 
Weitere Informationen: www.rotpunktverlag.ch  -  www.editionblau.ch