Eine Reise durchs Unwirkliche

Erika Fatland – „Sowjetistan“

von Frank Becker

Sowjetistan
 
Eine Reise durchs Unwirkliche
 
Eine 29jährige norwegische Journalistin reist allein, getarnt als Studentin, durch die fünf ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens: Turkmenistan, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan. Ein waghalsiges, nicht immer ungefährliches und höchst abenteuerliches Unterfangen. Der Sowjet-Traum in diesem Teil der Welt ist ausgeträumt, wenn auch nicht immer ganz. Und die Spuren des Sowjetreichs sind noch immer unübersehbar. Die nach dem Fall der Sowjetunion rasch ertrotzte Unabhängigkeit brachte wenigen die Früchte der Demokratie, den meisten anderen aber Not, Arbeitslosigkeit, Armut, völlige Überwachung und Diktaturen, die jene der Russen noch übertreffen.
 
Erika Fatland begann ihre Reise in Turkmenistan, einer vom System und der Abschottung durchaus Nordkorea beängstigend vergleichbaren absoluten Diktatur. So abstrus wie der Personenkult um den nordkoreanischen Diktator von Pjöngjang zeigt sich auch der um Turkmenistans Präsidenten Gurbanguly Berdimuhamedow, der 2006 die Nachfolge des Staatsgründers und ersten Diktators Saparmyrat Nyýazow al. Turkmenbaschi der Große antrat. Er perfektionierte den Überwachungsstaat ohne Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit, in dem nur wenige alles besitzen und prachtvolle potemkinsche Marmor-Fassaden den Betrachter blenden sollen. Das Öl- und gasreiche Land wird gnadenlos von einer Nomenklatur-Clique ausgebeutet. Interessant ist, daß die Türkei, die ja unter Recep Tayyip Erdogan selbst deutlich auf dem Weg in eine Diktatur ist, einer von nur wenigen Staaten ist, die gute Beziehungen zu Turkmenistan unterhalten.
Reich an Öl- und Gasreserven ist auch der nördliche Nachbar Kasachstan, der seit 1991 von Nursultan Nasarbajew nicht wesentlich demokratischer regiert wird. Wie die Staatschefs der übrigen zentralasiatischen Länder, die Erika Fatland bereist hat, kam auch Nasarbajew aus dem politischen System der Sowjetunion nach oben – Männer des zerfallenen Systems, die instinktsicher neue absolute Machtverhältnisse aufbauten. Das gilt ebenso für Tadschikistan und das Armenhaus der Region, Usbekistan. Kirgisistan macht durch seine relativ demokratischen politischen Verhältnisse die einzige Ausnahme.


Rushhour in Aschgabat/Turkmenistan - Foto © Erika Fatland


Samarkand/Usbekistan - Foto © Erika Fatland
 
Erika Fatland hat enorme Strapazen auf sich genommen, ist mit ihren Bewachern und Guides in schrottreifen Taxis und klapprigen Flugzeugen gereist, hat zu Pferd und zu Fuß unwegsame Gegenden und ihre Bewohner der verschiedensten Völker, Sprachen und teils archaischen Kulturen besucht. Ihre Erlebnisse hat sie in ihrem einzigartigen Buch „Sowjetistan“ ungemein spannend beschrieben. Sie erzählt von endlosen Wüsten und den Bergen des Pamir, dem „Dach der Welt“, von dem durch sowjetische Mißwirtschaft ausgetrockneten riesigen Aralsee, einem Binnen-Meer, das noch vor 50 Jahren durch seinen Fischreichtum den Kasachen und Usbeken Wohlstand brachte, von märchenhaften Städten wie Chiwa, Samarkand und Buchara, von menschenleeren Prachtstraßen, Plätzen, Hotels und Museen, von rassigen Pferden und Adlerjagden, Brautraub und Hochzeitsbräuchen, den letzten Deutschen in Kirgisistan, von Korruption und maßlosem Personenkult. Dabei steigt sie tief in die Geschichte Zentralasiens ein und vermittelt dem Leser einen Eindruck davon, wie sich all diese Völker durch die wechselnden Machtverhältnisse, Invasionen und Eroberungen von Dschingis Khan und Alexander dem Großen bis zu den Russen im 20. Jahrhundert entwickelt und durch willkürliche

Aral-See - Foto © Erika Fatland
Grenzziehungen verändert haben.
Es ist ein enorm spannendes, dabei äußerst unterhaltendes und sehr informatives Buch geworden, das viel bietet und neugierig auf noch mehr über die beschriebenen Staaten macht. Vor allem aber ist es ein beeindruckendes Porträt der Menschen Zentralasiens, ihrer Lebensart und ihrer entwaffnenden Gastfreundschaft. Für alle, die noch nicht viel über diese zentralasiatischen Staaten wissen, ist es ein guter Einstieg. Eine Empfehlung der Musenblätter.
 
Erika Fatland – „Sowjetistan“ - Eine Reise durch Turkmenistan, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan
Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg.
 
© 2017 Suhrkamp Verlag, Klappenbroschur, 511 Seiten, mit 32 Farb-Fotografien - ISBN: 978-3-518-46762-6
16,95 €
 
Weitere Informationen:  www.suhrkamp.de