Ein Sitten- und Kulturbild des frühen 19. Jahrhunderts

Angela Steidele – „Anne Lister - Eine erotische Biographie“

von Frank Becker

Aufzeichnungen einer
einzigartigen Frau
 
Die Tagebücher der Anne Lister
 
Wer die Beschreibungen der englischen Gesellschaft um und nach 1800 in den Romanen Jane Austens und Emily und Charlotte Brontës kennt, wird sich in den Tagebuchaufzeichnungen der Anne Lister (1791-1840) sogleich zurechtfinden – denn hier ist es nicht Roman, sondern ein tatsächliches Abbild der gesellschaftlichen Verhältnisse mit besonderem Augenmerk auf die Stellung der Frauen. Allerdings aus einem Blickwinkel, der bis dato unzugänglich war, mithin besonders interessant. Miss Lister hat über fast 40 Jahre ein intimes, sehr intimes Tagebuch geführt, ähnlich weiland John Pepys (1633-1703) in einer Geheimschrift, die nun verdienstvoll übertragen und übersetzt von Angela Steidele in dem Buch „Anne Lister - Eine erotische Biographie“ vorliegt. Es ist ein fieberndes Tagebuch lesbischer Leidenschaften, das Bekenntnis einer Frau, die nur Frauen liebte, die aber im Dutzend.
 
Es muß eine Höllenarbeit gewesen sein, für die Angela Steidele Archive durchforscht und auf den Spuren Anne Listers Länder, ja Kontinente durchreist hat. Das Ergebnis ihrer Forschung ist brillant, ungemein informativ, zum Teil amüsant, aber doch zugleich zutiefst erschütternd. Durch Anne Listers Aufzeichnungen kann der Leser in das Leben des englischen Land- und Geldadels, seine Dünkel und zementierten Denkweisen eintauchen, verstehen, wie entsetzlich eingeschränkt die Möglichkeiten in Sachen Bildung und Umgang von unverheirateten (aber auch verheirateten) Frauen waren – und begreifen, wieso sich damals eine Frau Frauen zugewandt, mit ihnen Flirts aufgenommen, zarte Bande geknüpft, erotische Abenteuer begonnen und sexuelle Befriedigung erlebt hat. Gleichzeitig wird deutlich, daß Anne Lister ja keine Einzelerscheinung war, denn die Verhältnisse all der Elizas, Marianas, Isabellas, Marys, Nantz´, Sibellas, Veres, Frances´, Elizabeths, Harriets, Lous usw. usw. wiederholten sich auch in anderen Konstellationen. Anne Lister aber war die einzige, die alles sorgfältig notierte, bis in die indiskreteste erotische Einzelheit. Aber sie war wohl auch eine besonders aktive Frau, die intrigant und taktierend, hemmungslos lügend und betrügend, hier schmeichelnd, dort Gift träufelnd, höchst lüstern und sexuell aggressiv vorging, sich die Rolle des „Mannes“ in einer Frau/Frau-Beziehung ausbedingte. Das äußerte sich auch durch ihr eher herbes Erscheinungsbild, das durch die schwarze Kleidung und ihre Haltung mehr und mehr einem Mann glich.
 
„Wäre sie ein Mann gewesen, müßte man sie Frauenheld nennen, Schwerenöter oder Heiratsschwindler oder einfach nur Schuft: Frauen pflasterten ihren Weg“, schreibt der Verlag zu dem Buch und: „Anne Lister betete sie an, belog und betrog sie, ging ihnen an die Wäsche und ans Geld. In pornografischer Deutlichkeit schildert die englische Landadlige in ihren Tagebüchern ihre zahllosen Abenteuer. Anhand dieser einmaligen Quellen zeichnet Angela Steidele das faszinierende Porträt einer schillernden Persönlichkeit, die allen Vorstellungen vom keuschen präviktorianischen Zeitalter widerspricht.“
Fest steht: Sie flirtete mit jeder, die nicht „bei Drei auf dem Baum war“, du sie suchte fast manisch, auch nach einer erkannten Geschlechtskrankeit, überall und stets nach Sex. Ihre Flirts und kurzen erotischen Intermezzi verweigern sich beinahe der Zählung. Und fest steht: Sie und alle ihre Partnerinnen wußten trotz mangelnder Aufklärung, unterdrückter Sexualität, langen Röcken und Schuten durchaus einen guten Orgasmus („ a good kiss“) zu schätzen.

Porträt Anne Lister, ca. 1830 - Joshua Horner pinx.
 
Es soll hier nicht unterschlagen werden, daß sich Anne Lister abseits ihrer erotischen Eskapaden in damals höchst ungewöhnlicher Eigeniniative umfassend sprachlich und naturwissenschaftlich bildete und unterrichten ließ, daß sie eine gewiefte Verwalterin der familiären Güter wurde und eine beharrlich nach Besitz strebende Erbin – was ihr schließlich beachtliche Häuser und Ländereien einbrachte. Bemerkenswert ist aber auch, wie viel Verständnis ihre Tante und ihr Onkel, bei denen sie aufgewachsen war und die sie unterhielten und förderten, ihren Neigungen entgegenbrachten.
Ein ganz besonderes Kapitel bilden ihre erstaunlich vielen Reisen innerhalb Englands, nach Schottland, Frankreich, Italien, Belgien, Holland, Deutschland und Dänemark. Durch Skandinavien reiste sie über Schweden, Norwegen und Finnland nach Rußland und im Winter bei harschem Frost per Schlitten und Kutsche (selbst als die Fenster der Kutsch zerbrochen waren) quer durch das zaristische Rußland Tausende Kilometer weiter bis Aserbeidschan, Astrachen und Georgien, damals ein ungeheures, gefährliches  Abenteuer, zumal für eine Frau. Sie nahm Strapazen auf sich, die heute niemand freiwillig erdulden würde, lernte Potentaten, Fürsten, Imame und Präsidenten kennen – und zwang ihre letzte Lebenspartnerin Ann Walker, mit der sie seit 1834 zusammenlebte, in ihrer bestimmenden Art dazu, das alles mitzumachen. Es sollte ihre letzte Reise werden. Am 22. September 1849 starb Anne Lister in Kutaisi/Georgien an Typhus oder vielleicht Malaria. Ein halbes Jahr nach ihrem Tod und nach der Überführung der Leiche via Moskau wurde Anne Lister am 29. April 1841 in Halifax beerdigt.
 
Angela Steidles Buch über Anne Lister, ihre Tagebücher und ihre Zeit ist einerseits höchst unterhaltend, andererseits ungemein wichtig zum Verständnis einer jetzt knapp 200 Jahre zurückliegenden Epoche. Eine Empfehlung der Musenblätter.
 
Angela Steidele – „Anne Lister - Eine erotische Biographie“
© 2017 Matthes & Seitz, 328 Seiten, gebunden, Lesebändchen - ISBN: 978-3-95757-445-9
28,- €
 
Weitere Informationen: www.matthes-seitz-berlin.de