Seh-Reise

1. Ausfahrt: Giovanni Bellini

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
1. Ausfahrt: Giovanni Bellini
 
Mit Schnaps oder ohne: Als wäre sie an einem Silvesterabend geboren worden, die Idee von der wöchentlich wechselnden Bildergalerie in meiner Küche.
Jeder von uns hat das zur Genüge erlebt, wenn ein Jahr zu Ende geht: Dieses im Innern grummelnde Bedürfnis, etwas im eigenen Leben zu verändern. Eine Kleinigkeit nur. Übernehmen darf man sich nämlich nicht. Denn dann stürzt der gute Wille schon nach wenigen Tagen in sich zusammen, und als wäre nichts gewesen, fällt der bisherige Alltag sofort wieder zurück in seinen alten Trott.
 
Diesmal ging es um den hohen Stapel von Kunstkarten, der sich im Lauf der Jahre und Jahrzehnte von meinen Reisen und Museumsbesuchen angesammelt hat, mehr als ein Viertel Meter hoch, und er wächst immer weiter – zu welchem Ende? Der Impuls, etwas Schönes, Sonderbares, das ich gesehen habe, festhalten zu wollen, ein schwaches Abbild davon zu sichern als Erinnerung - diesen Impuls verspüre ich bis heute. Auch wenn ich mittlerweile längst weiß, daß diese Postkarten ihre Funktion keineswegs erfüllen. So gut wie nie gab oder gibt es in meinem Alltag den Moment, daß ich eine Karte herausziehe aus diesem einsturzgefährdeten Stoß und so eines dieser Kunstwerke (sei es Malerei, Plastik oder Architektur), das mich einmal begeistert hat, wieder belebe. Der mächtige Stapel ist eine Masse lebloser Bilder geworden, der mir ständig im Blick ist, das heißt: übersehen wird. Ein staubfangendes Ärgernis. Schade. So viel wertvolle Augen-Blicke von einst …
So soll das nicht weitergehen, beschloß ich eines Tags, als sei es der Abend von Silvester. War es der leere Fleck in meiner Küche gewesen, über der Spüle, an der das Auge bei einer jener unwillkürlichen, alltäglichen Verrichtungen, gerade heute, hängen blieb? Füll die Leere da doch mit einer dieser Kunstkarten, sagte ich mir, schau sie dir eine Woche lang an, und montags kommt die nächste dran. Nicht länger als eine Woche pro Bild, um den Blick vor Abnutzung zu bewahren. Gleich holte ich aus dem Keller einen kleinen Wechselrahmen hoch, aus Holz, in Quer- wie Hochformat zu nutzen. Von oben nach unten wollte ich mich durch den Stapel Kunstpostkarten arbeiten, nahm ich mir vor in der Verwegenheit dieses Aufbruchs. Doch meine Lebenszeit reichte nicht mehr aus, um ans Ende – den Anfang eigentlich – vorzudringen. Also nutzte ich das alte Rechtsprinzip des Dezimierens, aus römischen Tagen, wenn ich nicht irre:
Jede Woche die zehnte Karte von oben – sie sollte eine Woche mein Auge beschäftigen, bei den eingeschliffenen Handreichungen des Alltags, wenn ich spüle, Tee koche, Nüsse knacke, eine Dose öffne und warm werden lasse. Und dann, kam es mir, könnte ich zu jeder ausgewechselten Karte doch gleich auch ein paar Worte sagen, in einem Tagebuch aus Bildern.
So ist diese kleine private Bildergalerie entstanden, nach dem Zufallsprinzip des Dezimierens, in – tatsächlich! - zweiundfünfzig Anläufen zum Abschluß einer jeden Woche, ein ganzes Jahr lang.

Zuoberst auf dem Stoß lag ein Bild von Franz Radziwill. Beschreiben werde ich es Ihnen gelegentlich gerne. Zeigen aber können die Musenblätter es
nicht, das Urheberrecht verhindert es, wie bei allen anderen Bildern, die noch im geschützen 70-Jahre-Fenster liegen. Also eins weiter im Stapel: Giovanni Bellini: Erzengel Gabriel. Das Gemälde macht nun den Anfang meiner Seh-Reise.
Das Dezimierungsverfahren hat mir also den Anblick des Erzengels Gabriel beschert. Und es war mir kalt beim Anschauen, jedesmal. Dabei: Welche Delikatesse des Farbauftrags, welche Feinheit der Haltung! Auch auf der kleinen Postkartenreproduktion sah ich, wie die Seide glänzt auf den Stulpen des weißen Gewandes. Das innere Glühen von Grau ins Blaue, in seidigem Hinüberschimmern. Den kühlen Glanz dieses edlen Stoffes meinte ich zu spüren auf den Fingerspitzen.
Streng im Profil ein Männergesicht vor dunklem Hintergrund, mit leicht geöffnetem Mund: Gabriel in seiner Funktion als Verkündigungsengel. In der Linken hält er die weiße Lilie, das Zeichen der unbefleckten Empfängnis, das dem Christen bis heute so wichtig ist, um die Göttlichkeit von Jesus Christus anzuzeigen. Mit ausgestreckter Rechter weist er zu Maria hinüber (auf dem anderen Flügel des Altarbildes) und sagt ihr gerade die Worte, die er zu sagen hat: Du, Maria, bist auserwählt unter den Weibern, den Sohn Gottes in die Welt zu bringen.
Das Gesicht dieses Gabriel, das Giovanni Bellini ihm gegeben hat, trägt die Züge eines venezianischen Noblen seiner Zeit. Das helle braune Haar, bis über die Ohren gewachsen, nach der Mode der Renaissance, ist reich gelockt, zusammengehalten über der Stirn von einer Perlenkette. Ein Ritter, der nach meinem Gefühl durchaus auch andere Waffen zu führen wüßte: aus Eisen (Erz-Engel!). Ein überaus männlicher Mann, von Härte, Entschlossenheit, Tatkraft. Mit angeborener Machtgebärde und der abweisenden Kälte der Aristokratie, die sich die Menschen geschaffen haben (in diesem Fall der mächtige Stadtstaat Venedig). Davor wird jeder, der nicht dazugehört, klein. Es muß nicht bloß die Frau eines Schreiners aus der römischen Provinz sein. Gabriels herrscherliche Distanz teilt sich mir in meinem Küchenalltag bis heute mit. Daß dieser Erz-Engel eine religiöse Botschaft verkündet, die nicht von dieser Welt ist, konnten meine Augen während der Woche keine Sekunde lang glauben.
Über Pfingsten war ich mit Freunden noch einmal in Venedig gewesen. Wohl zum letzten Mal habe ich diese längst ausgestorbene Stadt besucht, ein Freilichtmuseum ihrer selbst. Modeboutiquen und Lädchen voller köstlichstem Kunsthandwerk, aus allen nur denkbaren Materialen, ohne daß mir je irgendeine Verwendbarkeit für diese teuren Preziosen ersichtlich wurde. Dazwischen wir Touristen, die in Massen durch die engen Gassen und über die schmalen Kanalbrücken gedrückt werden, daß ein Ausweichen oft genug zur Last wird. Ist es vielleicht dieser hemmungslose Wille zur Schönheit, der auch Giovanni Bellinis Verkündigungsengel aus Seide und Erz ausstrahlt, vor mehr als einem halben Jahrtausend gemalt? Doch damals hatte Venedig noch einen Großteil des Abendlandes unter seinem elegant geformten, gnadenlosen Schuh.
Diese Botschaft lese ich von Gabriels leicht geöffneten Lippen ab. Keine andere sonst.
 
Giovanni Bellini, Erzengel Gabriel
Basilica  dei SS.Giovanni e Paolo in Venedig 
Redaktion: Frank Becker