Ein musikalischer Spuk (4)

von Christopher Pearse Cranch

Ein musikalischer Spuk (4)
 
Von Christopher Pearse Cranch
 
Das sind die Gräber der Musiker“, flüsterte der Leichenbestatter. „Ich habe selbst gesehen, daß einige Mitglieder unserer Händel- und Haydn-Gesellschaft dort beerdigt wurden - zwei von ihnen, Sie erinnern sich gewiß noch, sind letzten Sommer von der Choleraepidemie hinweggerafft worden. Oh, mitten im Leben ereilt uns der Tod; niemand von uns weiß, wann seine Stunde schlägt. Ich habe dort selbst eine Grabstelle und werde eines Tages meine Glieder darin zur Ruhe beten.“
Auf einmal vernahmen sie sonderbare Geräusche, die anscheinend aus jener Ecke kamen, von der sie gerade gesprochen hatten - Geräusche, die an die dissonanten Klänge eines Orchesters beim Einstimmen vor dem Konzert erinnerten. Es mochten zwanzig Instrumente sein, gedämpft und verhalten, als tönten sie verzerrt aus dem Untergrund herauf. Oh ja, dachte der Leichenbestatter, das ist bestimmt nur der Wind in den Bäumen. „Ich wünschte, der Mond würde endlich herauskommen“, sagte er, „so können wir nichts sehen. Aber wie dem auch sei, ich halte es für Christenpflicht, hineinzugehen und nach dem armen Mann zu sehen. Vielleicht hat er vor, sich in den großen Geigenkasten einzusperren. Wir sollten ihm nacheilen, um zu verhindern, daß er sich ein Leid antut. Kommen Sie mit!“
„Ich nicht, danke!“
„Ich auch nicht.“
„Und ich erst recht nicht!“
Sie hatten genug von dem Abenteuer und wollten nach Hause gehen. „Nun gut“, sagte der Leichenbestatter, „wie Sie wollen. Dann gehe ich eben allein.“
Mr. Shrowdwell war ein wahrhaftiger Sadduzäer. Er glaubte fest an den Tod. Die einzige Auferstehung, die er anerkannte, war die Auferstehung des Fleisches an einem sehr fernen Tag des Gerichtes. Er hatte keine Angst vor Geistern. Aber dies war nicht so sehr eine Sache des Verstandes als vielmehr des Temperaments und des beständigen Kontakts mit Toten.
„Wenn ein Mensch tot ist“, sagte er, „dann ist er tot. Basta. Ich habe noch nie einen Mann oder eine Frau gesehen, die ins Leben zurückgekehrt wäre. Sagt die Schrift nicht: Staub zu Staub? Es ist wahr, daß Gott nichts unmöglich ist, und am letzten Tag wird er seine Wahl treffen, wem er in den Wolken begegnen will; aber das ist ein Mysterium.“
Und doch hielt er es für möglich, daß dieser geheimnisvolle Besucher durch das hohe Eisengitter des Tores hätte verschwinden können - wenn er wirklich verschwunden war -, denn nach allem, was geschehen war, hätte es sich durchaus um eine optische Täuschung handeln können. Und deshalb beschloß er, hineinzugehen und sich selbst zu überzeugen. Den Schlüssel zum Friedhof trug er in seiner Tasche. Er schloß das Eisentor auf und trat hinein, während die anderen Gentlemen in einiger Entfernung stehen blieben. Sie wußten, daß der Leichenbestatter gegen alle Arten von Geistern gefeit war; nach einer kurzen Wartezeit beschlossen sie deshalb, nach Hause zu gehen, denn die Nacht war kalt und öde - Gespenst oder nicht Gespenst, es war sicherlich am besten so.
Als sich Shrowdwell der nordwestlichen Ecke des Gottesackers näherte, hörte er wieder diese sonderbare Musik. Sie schien aus den Grüften und Gräbern zu kommen, ging aber im Heulen des Windes unter, so daß er wiederum an einen Irrtum zu glauben geneigt war. In der entferntesten Ecke befand sich eine große alte Familiengruft, die einer Familie mit italienischem Namen gehört hatte, deren letztes Mitglied vor vielen, vielen Jahren zu Grabe getragen worden war. Und seit damals war das Grabmal nicht mehr geöffnet worden. Wilder Wein und Sträucher hatten es überwuchert.
 
 
Lesen Sie morgen wie sich die Geschichte weiter entwickelt -
und am Samstag den Schluß...