„Wir wollen zu Land ausfahren, wohl über die Fluren weit"

Wandervögel

von Karl Otto Mühl


Wandervögel
 
Gestern feierten wir den Geburtstag unseres Freundes. Ein halbes Dutzend älterer Männer, alle über Siebzig. Eine Ehefrau und eine ambitionierte türkische Literaturfreundin, die auch zum Freundeskreis gehört, waren dabei.
Wir saßen im Kreis vor der geöffneten Terrassentüre: Ein Strafrichter, ein Bildhauer, ein Jugendbuchautor, ein Geschichtsprofessor, zwei Autoren, ein Regisseur, zwei Damen.
Der Professor hatte in einem Archiv den handgeschriebenen Originaltext (1911) des Wandervogel-Liedes von Hjalmar Kutzleb
 
„Wir wollen zu Land ausfahren,
wohl über die Fluren weit - "
 
entdeckt.
Er selbst hat eine lange und lebendige Beziehung zum Geist der Wandervogel-Bewegung. Unvermittelt begann er mit dem Liedanfang – und alle fielen ein und sangen mit.
 
Und sofort dachte ich: Diesen Augenblick wirst du dir merken. Acht Leute, die ruhig und aufmerksam ein Wanderlied sangen, während die Kaffeetassen ruhten; acht Leute, ganz verschieden von Beruf, Herkunft, Einkommen, Umgebung;  Leute, die keine Angst hatten, belächelt zu werden; die sich nicht voreinander genierten; keinen ironischen oder überlegenen Gesichtsausdruck zeigten – für mich war es ein Augenblick großer Authentizität und Verbundenheit, wie sie sonst nur in großen Schicksalsaugenblicken fühlbar werden.
 
Dieses unbekümmerte Beieinandersitzen und Miteinandersingen hatte eine ganz besondere Qualität, war ein Kontrast zu unserem sonstigen Agieren in Gesellschaft: Es gab keine Furcht vor Kritik, Lächerlichkeit, Belauerung; Konvention. Wir waren frei und doch zusammen. Und dies alles oder alles nicht in einer Gruppe älterer, gestandener Männer, deren Gesichter wie gebannt in den sonnigen Nachmittag ragten.
Ferne summte  die Stadt. Die Welt pausierte.
Aber jetzt sangen alle ruhig und klar ein Lied und gingen dann zum Gespräch über, und die Kuchengabeln schnitten wieder ins Weiche.
Ich ahne bei solchen Gelegenheiten einiges vom Geist des Wandervogels, und ich denke gleich an Stefan George, edle Knaben, Anflug von Homosexualität und, daß ich eigentlich nicht den Eindruck habe, daß bei den Wandervögeln bestimmte  Charakterzüge (oder ihre Falsifikate) akzentuiert wurden. Vielleicht eher Gemüthaftes?
 
 
Karl Otto Mühl

Redaktion: Frank Becker