Seh-Reise (10)

Zehnte Ausfahrt: Werner Heldt

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (10)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
10. Ausfahrt: Werner Heldt

Gemalte Mehrdeutigkeit ist dieses Bild. Sie zeigt sich dort, wo sie am tiefsten beunruhigt: Mitten unter den Dingen des Alltags. Nichts ist da mystisch, geheimnisvoll, abgründig. Den Fensterblick, den der Maler seinem Betrachter bietet, hat in einer deutschen Großstadt jeder Mensch tagtäglich vor Augen: Hauswände nah, Gebäude dahinter, Dächer, ein (kahler) Baum, fern der Turm einer Kirche, eine Werbeaufschrift an der Rückseite eines Hauses: Ein einzelner Buchstabe, ein weißes „M“, auf grell blauem Putz. Ein Abriß gewohnter Alltäglichkeit.
 
Die Farben drinnen wie draußen stumpf, das Licht wie eingefroren. Selbst das Weiß der hinteren Mietshäuser bringt kaum Helligkeit in den Blick aus dem Fenster. Der Strich von Himmel am Bildrand oben: diffuses Grau und Blau, darin ein schwefeliges Gelb, voller Gewitter. (Daß das Bild mit Temperafarben auf eine Holzfaserplatte gemalt ist, verstärkt den Eindruck des Stumpfen.)
Ausgesprochen verrätselt der Vordergrund, ein Viertel des ganzen Bildes. Aber auch hier nicht durch die beiden Sujets – einen Krug, einen Vogel - , sondern durch ihre malerische Behandlung.
Der bauchige Krug leer. Am ehesten könnte er Blumen fassen, Milch oder Most vermute ich nicht in ihm. Sein Material: Ton oder Steingut? Sogar aus Glas könnte er sein. Schwarz die eine Hälfte, die andere weiß. Die Grenze dazwischen gerade gezogen, nimmt keine Rücksicht auf die Rundung des Krugs. Obwohl er leer ist, hat er’s in sich. In sein Schwarz und Weiß sind ein paar gelbbraune Kugeln gemalt, von einer vage pflanzlichen Linie umschlungen: helle im schwarzen Feld, dunkle im weißen. Yin und Yang fällt mir dabei ein, das chinesische Doppelzeichen für das Leben, alles Leben. Und doch bloß ein Krug, schmucklos, alltäglich in seiner Form.


Werner Heldt, Fensterausblick mit totem Vogel, 1945
 
Was den Blick aber fängt und beunruhigt auf diesem Bild, das ist dieser schwarze Vogel auf der anderen Hälfte der Fensterbank. Eine Amsel wohl, oder eine junge Krähe? Weit ausgebreitet die Flügel, bilden sie mit dem merkwürdig verkrümmten Leib eine Art Kreuz. Was ist mit diesem Vogel? Ist er gegen die Scheibe geflogen und betäubt nach innen gefallen? Ist er tot? Das Leben ist auf jeden Fall still gestellt. Das ist keine natürliche Haltung. Auch das Anthrazit des Vogels fahl und müde und leblos wie alles auf diesem Bild. Ein Moment absoluter Stummheit. Die schwarzen oder dunkelgrauen Fensteröffnungen der Häuser blicklos wie leere Augenhöhlen. Daß dahinter Menschen leben sollen – undenkbar. Todesstarre. Gelähmtes Dasein. Ruinen nach einer Katastrophe.
Und diese Stimmung kommt ohne jede Symbolik aus, sie haftet der schieren unaufgeregten Gegenständlichkeit der Dinge an. Ein Stadtblick aus einem Fenster. Sonst nichts. Ein Grauen ohne jedes Attribut. Grauen als Grausein.
 
Daß der Vogel tatsächlich tot ist, erfahre ich jetzt erst, da das Bild, aus dem Wechselrahmen genommen, neben mir liegt: „Fensterausblick mit totem Vogel“. Sein im Titel festgeschriebenes Totsein ist dennoch keine Neuigkeit für mich. Eine Woche lang kam ich nicht los von dieser verkrümmten Haltung des Tieres. Ich nahm sie wahr, jeden Tag, war beunruhigt, verunsichert. Und hatte doch keine Fragen. Es war alles so auf diesem Bild, wie es ist, wenn die Sonne fehlt, Licht, jeder Ton, ein Geruch. Wenn sich der Mehltau kreatürlicher Traurigkeit auf das Leben legt, wenn man Tod spürt im Schweigen der Dinge. Selbst Fragen stellen sich dann nicht mehr.
Der „Fensterausblick mit totem Vogel“ wurde in jenem Jahr 1945 gemalt, in Berlin, nach einer epochalen Menschheitskatastrophe in diesem Teil der Welt. Nichts davon ist auf dem Bild zu sehen. Und alles.
 
Werner Heldt, Fensterausblick mit totem Vogel, 1945
 
Der Maler ist 1954 gestorben. Rechteinhaber an dem Bild bzw. seiner Wiedergabe konnten nicht ermittelt werden. Wir bitten eventuell Berechtigte,
sich bei der Redaktion zu melden, falls Einwände gegen die Wiedergabe bestehen sollten.
 
Redaktion: Frank Becker