Warten und Hoffen

1948: Drei Jahre nach Kriegsende - Die Rückkehr des Vaters aus russischer Kriegsgefangenschaft

von Jürgen Koller

Warten
und Hoffen


Noch immer  beherrscht das Thema ‚Krieg‘ in all seinen traurigen Facetten die Spalten der Magazine, Zeitungen und die Programme der TV-Stationen. Auch die Belletristik greift diesen generationenübergreifenden Stoff immer wieder auf. Wir reden oft von den Jahren "vor" dem Krieg und den ersten Jahren "nach" dem Krieg, wenn auch für die jüngeren Generationen das Thema Krieg aus nachvollziehbaren Gründen nicht mehr diese emotionale Bindungskraft wie für die älteren Menschen hat.
Und so ist es besonders bemerkenswert, daß die 1970 geborene Julia Frank mit ihrem Roman „Die Mittagsfrau“ ein großes, literarisch anspruchvolles, aber auch traurig machendes, vielleicht sogar pessimistisch stimmendes Buch über eine unbarmherzig vom Schicksal gebeutelte Heldin geschrieben hat, deren Lebensumstände es in den grenzwertigen Situationen des Krieges nicht zuließen, nach moralischen Geboten zu handeln. Dieser Roman hat den Deutschen Buchpreis 2007 zu Recht  erhalten.

Wir sollten darin übereinstimmen: mit der bedingungslosen Kapitulation des nationalsozialistischen

Deutschland bekam das deutsche Volk von den Siegermächten – zumindest in den Westzonen und später in der Bundesrepublik – die Chance, den Weg in eine freiheitlich- demokratische Ordnung zu beschreiten. Es war für uns Deutsche neben all der Bedrückung und Verzweiflung über die  unsagbaren  Verluste an Menschen, Heimat und ethisch-moralischen Werten, über die nicht bezifferbaren Zerstörungen im Materiellen und im Geistigen eine Herausforderung, der es sich zu stellen galt.

Auch die Deutschen in der damaligen Sowjetzone hatten den Willen und die Tatkraft, ihren Teil Deutschlands wieder bewohnbar, letztlich lebenswert zu machen. Nur, daß das Schicksal für sie den fast nahtlosen Übergang von der einen Diktatur in die andere bereithielt.

Als am 8. Mai 1945 endlich die Waffen schwiegen, hatten Millionen Menschen vorerst andere Sorgen, als über eine demokratische Zukunft nachzudenken. Es galt eine Behausung zu finden oder  ein Stück Brot aufzutreiben. Es ging für die Flüchtlinge und Vertriebenen, für die Ausgebombten, für die Davongekommenen aus den Lagern um das nackte Überleben in den ersten Wochen und Monaten nach dem Kriegsende.
Doch eine Sorge überschattete all diese schier unermeßlichen Existenznöte – die Frage, was ist aus unserem Vater, Sohn, Bruder, was ist aus meinem Ehemann geworden?

Als für uns, meine Mutter war damals 31 und ich 4 Jahre alt, der Krieg im zerbombten Chemnitz zu Ende ging, konnten wir zwar von materiellem Glück reden, das Haus hatte nur mittlere Brandbombenschäden davongetragen, aber meine Mutter hatte seit vielen Monaten nichts mehr von meinem Vater gehört. Sie wußte nur, daß er als Soldat der Wehrmacht an der gefürchteten Ostfront gewesen war.

Ein geflügeltes Wort meiner Mutter in den Kriegsmonaten hatte stets gelautet: “Ich will bis zu meinem Lebensende trocken Brot essen, wenn nur diese ewigen Bombenangriffe ein Ende finden.“
Doch noch furchtbarer war dann die Ungewißheit über das Schicksal des Ehemanns, das Warten und Hoffen auf ein Lebenszeichen. Nichts - keine Karte, keine Notiz vom Suchdienst des Roten Kreuzes, kein Kamerad, der vorbeikam, der meinen Vater Herbert getroffen hatte. Und das ging so über Wochen und viele, viele  Monate.

Die Kartenleserinnen und Wahrsagerinnen hatten Hochkonjunktur. Auch meine Mutter ließ meines

Vaters Trauring  für einige Eier und ein großes Stück Brot - eingetauscht gegen des Vaters Lederschuhe - bei einer Hellseherin über einer Europakarte pendeln. „Ihr Herbert kommt zurück, das Pendel schlägt in Richtung Moskau aus, er lebt, es geht ihm gut“, so die nebulöse Antwort.
Und wieder banges Hoffen und tröstliche Worte von der Familie. Alle Männer der Familie waren zurückgekommen, einer hatte für Rommel ein Bein verloren, ein anderer war zusammengeschossen und zurechtgeflickt worden, aber sie lebten… 

Im Nachlaß meiner Mutter, die im Dezember 1990 verstorben war, fand ich ein Kästchen mit einigen russischen Rotkreuz-Postkarten, die meine Mutter dann doch noch von meinem Vater aus dem Gefangenenlager bei Leningrad erhalten hatte. Sie hat diese Karten mir nie gezeigt, es war ein Stück ihrer Lebenserinnerung, die sie nicht teilen konnte oder wollte.

Das Schicksal meines Vaters glich dem von Millionen deutscher Landser –
9. Mai 45, Kapitulationsgefangener auf der Kurischen Nehrung, von den russischen Siegern der Wertsachen beraubt, dann auf dem Rücken markiert mit einem großen "W(oinna) p(lenna)" - Kriegsgefangener - ging es zu Fuß oder im offenen Waggon sechs Wochen durch das zerstörte Ostpreußen, Litauen, Polen und West-Rußland bis nach Leningrad. Von den 50.000 Gefangenen im Lager starben schon in den ersten Wochen die Hälfte an Ruhr und am Hunger. Die klebrige Tagesration "Brot" betrug 250 g - Schrot, Eicheln und Kastanien, dazu eine Handvoll Sauerkraut. Manch Gefangener tauschte in seiner Gier nach Tabak die ärmliche Ration Brot gegen die tägliche „Papyrossi-Zigarette“ – zwei Zentimeter Machorka-Tabak mit Papp-Mundstück – um dann nach wenigen Tagen zu verhungern und verscharrt zu werden.
 

Was Millionen Russen in deutschen Sammel-Lagern widerfahren war, fiel nun mit gleicher Härte auf die Deutschen zurück - mit einem Unterschied: die Bewacher prügelten und peinigten die Gefangenen nicht zu Tode. Wer floh, hatte sowieso keine Chance – im Sommer die unendlichen Sümpfe, im Winter Schnee und 25 oder 30 Grad Kälte und eine Bevölkerung, die keinem Flüchtenden half.

Zur Sklavenarbeit - Lokomotiven mit Ölschiefer beladen - wurden die ausgemergelten Männer durch Leningrad getrieben und die russischen Bewacher mußten oftmals ihre Gefangenen vor der Rache und dem Haß der Bevölkerung schützen. Man muß wissen, daß Leningrad in der 900-tägigen Belagerung durch die Deutschen über 600.000 Hunger- und Bombentote zu beklagen hatte, mehr als der ganze alliierte Luftkrieg deutsche Zivilopfer forderte.

Irgendwann  Mitte 1946 war mein Vater als "o. K." (ohne Kraft) eingestuft  und auf das Krankenrevier verlegt worden. Dort erhielt er erstmals seit der Gefangennahme im Mai 1945 die Möglichkeit, eine Rot-Kreuz-Karte an meine Mutter zu schreiben. Die Karte ist von fremder Hand geschrieben, weil er zu schwach war - nur die Unterschrift "Herbert" stammt von ihm. Die Männer wußten nichts von der Heimat, sie hatten nur gehört, daß es schwerste Kämpfe im "Reich" gegeben hatte und viele Städte ausgelöscht worden waren, aber nichts Konkretes.

Die Krankenstation sollte meines Vaters Glück sein: Der Zufall wollte es, daß dort die einzige Schreibmaschine kaputt gegangen war und die blutjunge Ärztin ihre gefangenen Patienten fragte, wer von den Deutschen die Maschine reparieren könne. Und mein Vater konnte, hatte er doch vor dem Krieg in Chemnitz/Siegmar-Schönau bei den Wanderer-Werken eben solche Continental- Büromaschinen zusammengebaut. Die Maschine mit kyrillischen Schriftzeichen stammte von dort aus den frühen dreißiger Jahren. Mit sogenannten Russenaufträgen, die während der Weltwirtschaftskrise von Sowjet-Rußland erteilt worden waren, hatten sich etliche deutsche Firmen über die schlimmste wirtschaftliche Not retten können.
Als Dank für die Reparatur schickte die Ärztin meinen Vater nach seinem monatelangen Kranksein zu leichterer Arbeit in eine Autowerkstatt.

Mein Vater konnte dann öfters einige belanglose Zeilen schreiben, immer betonte er, daß er gesund sei (was natürlich nicht stimmte). Im Dezember 1946 erhielt er erstmals auch ein lang ersehntes Lebenszeichen aus der Heimat.

Ab Mitte 1947 „normalisierte“ sich der Postkartenverkehr über das Rote Kreuz. Auch das Leben im Lager wurde um ein Geringes erträglicher, aber der Hunger blieb natürlich. Die abgebildeten Karten belegen das, aber es ist ganz offensichtlich, daß die russische Zensur nur wenige Zeilen erlaubte.
Weihnachten 1947 schrieb mein Vater, daß es nunmehr das fünfte Fest sei, das er ohne Familie in der Fremde feiern müsse.

Dann, im Frühjahr 1948, besuchte uns ein entlassener Kamerad meines Vaters und überbrachte uns liebe Grüße. Meine Mutter war danach wochenlang krank vor Aufregung und dem Hoffen auf die baldige Rückkehr ihres  Mannes.

Am 22. Mai 1948 war es soweit - mehrmals hatten wir schon vergebens auf dem zerstörten


„Sprawka“ – Entlassungs-Ausweis des Kriegsgefangenen Herbert Koller
Chemnitzer Hauptbahnhof gewartet - aus Dresden kam ein Transport entlassener Kriegsgefangener und mein Vater war dabei....
Aber wer kam da? Mich hob ein glatzköpfiger Mann im langen zerfransten Russenmantel, der nach Machorka und Desinfektionsmittel stank, hoch und küßte mich ab. Dieser Mann war also der Vater, an den ich mich nicht erinnern konnte und für den ich eine Blechschachtel voll Zigaretten-Kippen gesammelt hatte?
Es kam ein Mann, der nur noch ein sehendes Auge hatte, dessen Beine wie Baumstämme dick waren, voller Wasser, dessen Herz nie wieder gesund wurde und der mit seinen 38 Jahren viel älter als der Großvater aussah.
Jahre später, rückblickend, sagte mein Vater oft, wenn er vom Schicksal deutscher Kriegsgefangener oder Zivilinternierter hörte, die in den frühen 50er Jahren noch immer in Rußland ausharren mußten: „Das Schicksal hat es doch letztlich gut mit uns gemeint, wir sind  davongekommen!“              

Mein Vater war mir bis zu seinem frühen Herztod 1972 stets ein guter, aber strenger Vater. Etwas fehlte immer zwischen uns - die Bindung, die sich zwischen Vater und Sohn in der frühen Kindheit eines Jungen aufbaut.
Bundeskanzler Konrad Adenauer konnte  im Jahre 1955 bei seinem ersten Staatsbesuch in Moskau die letzten 10.000 deutschen Kriegsgefangen nach Hause holen.
Das späte Ende einer Zeitstrecke, die am 1. September 1939 mit der Kanonade des Kreuzers „Schleswig-Holstein“ auf die polnische Westerplatte bei Danzig begonnen hatte.


Informationen zu Julia Frank unter: www.juliafranck.de  und  www.fischerverlage.de

Das Copyright für den Text und die in den Text eingefügten Dokumente liegt bei Jürgen Koller.

Redaktion: Frank Becker