Warten
Noch immer beherrscht das Thema ‚Krieg‘ in all seinen traurigen Facetten die Spalten der Magazine, Zeitungen und die Programme der TV-Stationen. Auch die Belletristik greift diesen generationenübergreifenden Stoff immer wieder auf. Wir reden oft von den Jahren "vor" dem Krieg und den ersten Jahren "nach" dem Krieg, wenn auch für die jüngeren Generationen das Thema Krieg aus nachvollziehbaren Gründen nicht mehr diese emotionale Bindungskraft wie für die älteren Menschen hat. Wir sollten darin übereinstimmen: mit der bedingungslosen Kapitulation des nationalsozialistischen
Auch die Deutschen in der damaligen Sowjetzone hatten den Willen und die Tatkraft, ihren Teil Deutschlands wieder bewohnbar, letztlich lebenswert zu machen. Nur, daß das Schicksal für sie den fast nahtlosen Übergang von der einen Diktatur in die andere bereithielt. Als am 8. Mai 1945 endlich die Waffen schwiegen, hatten Millionen Menschen vorerst andere Sorgen, als über eine demokratische Zukunft nachzudenken. Es galt eine Behausung zu finden oder ein Stück Brot aufzutreiben. Es ging für die Flüchtlinge und Vertriebenen, für die Ausgebombten, für die Davongekommenen aus den Lagern um das nackte Überleben in den ersten Wochen und Monaten nach dem Kriegsende. Als für uns, meine Mutter war damals 31 und ich 4 Jahre alt, der Krieg im zerbombten Chemnitz zu Ende ging, konnten wir zwar von materiellem Glück reden, das Haus hatte nur mittlere Brandbombenschäden davongetragen, aber meine Mutter hatte seit vielen Monaten nichts mehr von meinem Vater gehört. Sie wußte nur, daß er als Soldat der Wehrmacht an der gefürchteten Ostfront gewesen war. Ein geflügeltes Wort meiner Mutter in den Kriegsmonaten hatte stets gelautet: “Ich will bis zu meinem Lebensende trocken Brot essen, wenn nur diese ewigen Bombenangriffe ein Ende finden.“ Die Kartenleserinnen und Wahrsagerinnen hatten Hochkonjunktur. Auch meine Mutter ließ meines
Im Nachlaß meiner Mutter, die im Dezember 1990 verstorben war, fand ich ein Kästchen mit einigen russischen Rotkreuz-Postkarten, die meine Mutter dann doch noch von meinem Vater aus dem Gefangenenlager bei Leningrad erhalten hatte. Sie hat diese Karten mir nie gezeigt, es war ein Stück ihrer Lebenserinnerung, die sie nicht teilen konnte oder wollte. Das Schicksal meines Vaters glich dem von Millionen deutscher Landser – Was Millionen Russen in deutschen Sammel-Lagern widerfahren war, fiel nun mit gleicher Härte auf die Deutschen zurück - mit einem Unterschied: die Bewacher prügelten und peinigten die Gefangenen nicht zu Tode. Wer floh, hatte sowieso keine Chance – im Sommer die unendlichen Sümpfe, im Winter Schnee und 25 oder 30 Grad Kälte und eine Bevölkerung, die keinem Flüchtenden half. Zur Sklavenarbeit - Lokomotiven mit Ölschiefer beladen - wurden die ausgemergelten Männer durch Leningrad getrieben und die russischen Bewacher mußten oftmals ihre Gefangenen vor der Rache und dem Haß der Bevölkerung schützen. Man muß wissen, daß Leningrad in der 900-tägigen Belagerung durch die Deutschen über 600.000 Hunger- und Bombentote zu beklagen hatte, mehr als der ganze alliierte Luftkrieg deutsche Zivilopfer forderte. Irgendwann Mitte 1946 war mein Vater als "o. K." (ohne Kraft) eingestuft und auf das Krankenrevier verlegt worden. Dort erhielt er erstmals seit der Gefangennahme im Mai 1945 die Möglichkeit, eine Rot-Kreuz-Karte an meine Mutter zu schreiben. Die Karte ist von fremder Hand geschrieben, weil er zu schwach war - nur die Unterschrift "Herbert" stammt von ihm. Die Männer wußten nichts von der Heimat, sie hatten nur gehört, daß es schwerste Kämpfe im "Reich" gegeben hatte und viele Städte ausgelöscht worden waren, aber nichts Konkretes. Die Krankenstation sollte meines Vaters Glück sein: Mein Vater konnte dann öfters einige belanglose Zeilen schreiben, immer betonte er, daß er gesund sei (was natürlich nicht stimmte). Im Dezember 1946 erhielt er erstmals auch ein lang ersehntes Lebenszeichen aus der Heimat. Ab Mitte 1947 „normalisierte“ sich der Postkartenverkehr über das Rote Kreuz. Auch das Leben im Lager wurde um ein Geringes erträglicher, aber der Hunger blieb natürlich. Die abgebildeten Karten belegen das, aber es ist ganz offensichtlich, daß die russische Zensur nur wenige Zeilen erlaubte. Dann, im Frühjahr 1948, besuchte uns ein entlassener Kamerad meines Vaters und überbrachte uns liebe Grüße. Meine Mutter war danach wochenlang krank vor Aufregung und dem Hoffen auf die baldige Rückkehr ihres Mannes. Am 22. Mai 1948 war es soweit - mehrmals hatten wir schon vergebens auf dem zerstörten
Mein Vater war mir bis zu seinem frühen Herztod 1972 stets ein guter, aber strenger Vater. Etwas fehlte immer zwischen uns - die Bindung, die sich zwischen Vater und Sohn in der frühen Kindheit eines Jungen aufbaut.
Informationen zu Julia Frank unter: www.juliafranck.de und www.fischerverlage.de Das Copyright für den Text und die in den Text eingefügten Dokumente liegt bei Jürgen Koller.Redaktion: Frank Becker |