Seh-Reise (12)

Zwölfte Ausfahrt: Herr Heinrich Hetzbolt von Weissensee,

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (12)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
12. Ausfahrt: Herr Heinrich Hetzbolt von Weissensee

Fröhlich waren die Augen-Blicke, wie selten, vollkommen unbeschwert, die ich unter der Woche auf die Kunstkarte in meiner Küche warf und die ich zurück bekam aus dem braunen Holzrähmchen, wenn ich spülte oder den Tee aufbrühte. In frischem buntem Farbauftrag eine Jagdszene, aus ferner Vorzeit, in aller Drastik und Unmittelbarkeit gegeben, in der mäßigen Stilisierung einer Malhand des Mittelalters. Zuletzt habe ich diese farbliche Unkompliziertheit und szenische Frische auf Bildern in Bali gesehen, in den Museen von Ubud. Und genossen.
Wo ich die Karte erworben habe und wann – nicht der Dunst einer Erinnerung. Lediglich der Name des abgebildeten Minnesängers ist genannt: „Herr Heinrich Hetzbolt von Weissensee“, mit dem Zusatz „Minnesänger“. Ohne Ort, ohne Jahr. Obwohl ich als Student den deutschsprachigen Minnesang kennenlernte, habe ich den Namen nie gehört. Auch mein immer nützlicher Brockhaus, den ich jetzt, vorm Schreiben, befrage, läßt mich diesmal im Stich. Kein „Hetzbolt“ zu finden, dafür gleich drei „Weißensee“ – in Oberkärnten, Brandenburg, Thüringen.
 
Was also habe ich gesehen in der vergangenen Woche?
Einen mittelalterlichen Ritter auf Saujagd. Den Moment, da das Wildschwein gestellt ist und vom Ritter zu Pferde mit dem Schwert den tödlichen Stoß empfängt, kräftig geführt von der Rechten, während die Linke ihm offen auf der Brust liegt - verspielt? geziert? zeremoniell?
Der massige Körper des Wildschweins im Zentrum ist der passive, leidende Held der ganzen Veranstaltung. Grau, mit schwarzen Borsten, das Maul im Schmerz des gerade empfangenen Stoßes aufgerissen, Blut tritt aus der Wunde. Frontal ihm entgegen sitzt Herr Heinrich Hetzbolt elegant zu Pferde, höfisch aufgeputzt. Ein Geck mit dem kegelförmig zugespitzten Hut auf seinem schulterlangen blonden Gelock. Der Todesstoß wird mit zeremonieller Würde ausgeteilt, von oben herab. Der Ritter unberührbar, leidenschaftslos.
Lebendiger geht es auf der Seite der gejagten Sau zu. Drei Hunde und zwei Jagdhelfer, die dem Ritter das Tier vor das Schwert gestellt haben -

Herr Heinrich Hetzbolt von Weissensee - Codex Manesse
sie haben die eigentliche Arbeit der Hatz getan und sind noch dabei, im unmittelbaren Kontakt mit dem gefährlichen Tier, von Kreatur zu Kreatur. Der eine Jagdhelfer nimmt Reißaus, klettert einen Baum hoch, daß der sich biegt. Im gleichen violettroten Gewand wie sein Herr, den Speer unter den Arm geklemmt, das Jagdhorn über der Schulter, hängt er jetzt oben im Baum, der Hut ist ihm beim Fliehen vom Kopf gerutscht und flattert am Band auf seinem Rücken. (Die heimische Eiche ist nur an ihren Blättern zu erkennen, so linkisch ist sie gemalt: Viel eher möchte man sie für eine Palme des Morgenlandes halten.) Der zweite Jagdhelfer stößt der Sau ein Kurzschwert in den Kamm. Seine Tonsur im blonden Schopf wundert mich. Ist der junge Mann ein Geistlicher, der auf der Burg den Gottesdienst versieht? Und gehört dennoch zum Troß der Jagd? Die Gesichter der drei Jäger, allesamt blond und mit dem gleichen roten Mündchen, sind dem Betrachter frontal zugewandt. Im Profil dagegen die drei Hatzhunde, noch voll im Einsatz, verbeißen sich von unten und oben in der Sau. Nur der kleine Mops vorne geht durch. Er hat genug mit seiner blutenden Wunde und versucht, sein Fell zu retten.
 
Eine Jagdszene voll bunter Dramatik, der direkte Kampf zwischen Mensch und Tier. Ein Stück Alltag aus einer früheren Zeit, für das es heute keine Entsprechung mehr gibt. Das Mittelalter in Europa, ständisch gebunden in Herr und Knecht und Diener. Der Ritter mit dem kernigen Namen Hetzbolt ist Herr über Leben und Tod. Für diese Dominanz steht sein Wappen: das Kampfschild, von rotem Tuch umflattert.
Nicht zu vergessen: Der Ritter Hetzbolt war ein Minnesänger. Dichten und Singen gehörte zur Lebensart eines Ritters dazu. Ob er fahrender Sänger war, ob ein Burgherr in Oberkärnten, Brandenburg oder Thüringen – das alles weiß ich nicht und muß es nicht wissen. Was ich sehe, ist das Stück Leben einer vergangenen Epoche, aus dem Vergessen hochgeholt. Die durch alle Stilisierung hindurch handfest erzählte Sauhatz von dazumal, herausgehoben aus zeitlos verrinnender Gegenwart, ist ein Fundstück unseres Herkommens. Wir alle sind so viel älter, als wir es selbst wissen. In jedem kleinen Kevin, der heute geboren wird, steckt immer noch ein gutes Stück Hetzbolt.
 
Herr Heinrich Hetzbolt von Weissensee, Minnesänger

 

 
Redaktion: Frank Becker