Das Suchen des Gesuchten

Überlegungen

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker

Das Suchen des Gesuchten

Neulich sagte ein gar nicht so alter Mann: Das mit der Hüfte war ja eine lange Geschichte. Es ist vorbei, aber das Suchen, das hört nie auf. Täglich verleg ich etwas, zum Beispiel die Brille.

Mir passiert das nicht, ich habe fünf Brillen. Ich muß allerdings zugeben, daß es mich genau so ärgert sie ihn, wenn ich eine von den Fünfen verlege.
Auch sonst sehe ich Ähnlichkeiten mit dem Mann. An manchen Tagen lebe ich fast lauernd, auf den nächsten Verlust wartend. Was werde ich als Nächstes verlegen? Wenn es dann geschieht, beginnt das Suchen, manchmal wochenlang. Es gibt Gegenstände, die nie wieder auftauchen.

Aber es kommt auch vor, daß ich mich aufmandele und stumm aufschreie: Jetzt ist Schluß. Ich habe die Nase voll. Es muß ja da und da sein.
Und, Sie werden es nicht glauben, in jedem, vierten oder fünften Fall stößt die zornige, entschlossene, suchende Hand ins Dunkel, findet einen bisher vernachlässigten Winkel – und ergreift den Gegenstand!

Ganz anders verläuft es mit dem Heiligen Antonius, dem Heiligen für verlorene Sachen. Wenn er hilft, tut er es immer in einem völlig unerwarteten Augenblick oder in einer völlig unerwarteten Situation. Er läßt sich dabei nicht beobachten.
Klar, daß er manchmal entscheidet, daß ich irgendetwas auch gar nicht brauche. Er läßt es verschwinden. Manchmal läßt er mich auch sitzen. Ich weiß, er will nicht, daß ich mir einbilde, ich könne einfach über ihn verfügen.

Die Betrachtung soll nicht ohne eine Handreichung enden. Wir Vergeßlichen sollten so viele Überprüfungs-Mechanismen (rechtzeitige!) einbauen wie möglich. Einen Raum nicht verlassen, ohne uns abzufragen, was wir übersehen haben könnten. Oder kein Auto, kein Bad, kein Restaurant. Wenn ich ins Altersheim einziehen sollte, werde ich dies hier an meine Zimmertür pinnen. Es hilft bestimmt.

Ach ja, mein Trick bei dieser Handreichung: Durch solch einen Willensakt die Souveränität gegenüber dem Dämon der Vergeßlichkeit zurückgewinnen. Viel Glück.


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008