Chips

Aus dem Zettelkasten

von Erwin Grosche

Erwin Grosche - Foto © Frank Becker
Aus meinem Zettelkasten
 
Chips:  Einen Chip muß man aus der Tüte knabbern. Geräusche haben ihren Sinn. Unsere Ohren nehmen sie wahr, um vorbereitet und gewarnt zu sein. Wenn Chipsesser in Kinos oder Wohnzimmern Chips aus der Tüte fischen, sind alle Anwesende alarmiert, weil die eigentlichen Knabbergeräusche noch bevorstehen. So kündigt sich ein Erdbeben an, so beginnt ein Ehestreit. Das ist das Magenknurren vor der Freßattacke. Das Knistern der Tüte ist das Warming Up vor dem eigentlichen Grauen. Manche Geräusche werden so gerne gemacht, andere hören ungern dabei zu. Wer belauscht schon gerne andere beim Sexmachen? Dabei sein ist nicht alles, gerade wenn man keine Chips mag. Das Pergamentpapier mit den Haßbotschaften knistert. Das Testament, das zu deinem Gunsten ausgestellt wurde, und gerade von der Maus aufgefressen wird, knistert. Die Finger, die der Mann in deiner Gegenwart ausknackt, kitzeln dich nicht, sie bohren sich in deine Rippen. Das ist ein Angriff auf deine Mozartnerven. Es wurden schon Menschen wegen geringerer Verstöße getötet. Chipsesser wissen, daß Chipstütengeräusche provozieren. Sie ahnen die Reaktionen der nicht beteiligten Mampfer, doch gerade deren Haß erhöht den Reiz des Banalen. Als greife man todesmutig dem knurrenden Löwen in sein Maul. Als entreiße man dem tobenden Schredder den Mulch. Als fische man dem plärrenden Baby den Brei aus dem Mund. Als suche man in der Flugzeugkotztüte sein Gebiß.  Die Chipstüte, dieses Percussionsinstrument des Teufels, erwacht wie ein häßlicher Urwaldfrosch, den man eigentlich schon für ausgestorben hielt. Der Chipsesser geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Auch im Augenblick der Angst geben wir Töne von uns, die vorgaukeln sollen, daß wir nicht allein sind. So  macht es Spaß, im Keller zu pfeifen und steht man auf dem Berg, lockt das Echo. „Was ißt man nicht mit Gips? Chips!“ Alte, also nicht mehr knackende Chips aus einer knisternden Chipstüte zu fischen ist nur krank und abzulehnen. Man zündet nicht die Lunte einer Bombe, die dann nicht explodiert. Alles hat seine Zeit, bis der Geduldsfaden reißt. Heute gibt es Chips, die gesund sein wollen und zwar knacken, aber nicht schmecken. Wer hat sich denn diese funktionale Störung ausgedacht? Ein Furz sollte auch stinken. Wer den Tod sucht, gibt keine Kontaktanzeige auf. Der Abschied ist kein Wunschkonzert. Ich habe mal gelesen, daß unsere Ohren noch Geräusche wahrnehmen, während wir schon gestorben sind. Da wird wahrgenommen und keiner hört zu. Wäre es trotzdem nicht völlig unpassend, einem Totengräber dann zu lauschen, der in seiner Pause aus einer Chipstüte Chips in seinen Rachen schaufelt? Vielleicht ruft uns dieses Geräusch wieder ins Leben zurück. Wollen wir das? Wollen wir dorthin wieder zurück, wo Engel nicht nur Harfen spielen?    


© Erwin Grosche
 

Das
„Weltlexikon“, das sich aus Erwin Grosches Zettelkasten speist, wird im Oktober im Bonifatius Verlag erscheinen.