Orchesterkultur auf höchstem Niveau

Die Essener Philharmoniker unter Stefan Soltesz begeistern mit Mahlers Dritter

von Stefan Schmöe

9. Symphoniekonzert der Essener Philharmoniker

10. April 2008 (Wiederholung am 11. April)
Philharmonie Essen
- Alfried Krupp Saal

 Gustav Mahler: Symphonie Nr. 3 d-Moll


Essener Philharmoniker
Leitung: Stefan Soltesz


Gustav Mahler (1860-1911)

Alexandra Petersamer, Mezzosopran

Aalto Kinderchor
Damen des Extra-Chores
des Aalto Theaters
(Leitung: Alexander Eberle)


Orchesterkultur auf höchstem Niveau

Ob Boston Symphony oder Berliner Philharmoniker – an hochkarätigen Ensembles ist in der Essener Philharmonie kein Mangel. Neben den ganz großen Namen bespielen aber auch die Orchester der Region das Haus, die Essener Philharmoniker inbegriffen. Wenn es da zu Programmdopplungen kommt, muß das nicht von Nachteil sein: So hatte das Publikum innerhalb von knapp zwei Monaten die Gelegenheit, ein gewaltiges Werk wie Mahlers dritte Symphonie in zwei unterschiedlichen Interpretationen zu erleben – zunächst von den Bochumer Symphonikern mit Dirigent Steven Sloane (OMM-Rezension), jetzt von den „Essenern“ mit Chefdirigent Stefan Soltesz.

Frappierend an der aktuellen Aufführung ist die außerordentlich differenzierte klangliche Behandlung des Orchesters. So sorgfältig und nuanciert ausmusiziert in jeder Instrumentengruppe – von Haupt- und Nebenstimmen zu reden wäre da unsinnig – hört man Mahler kaum einmal. Durch und durch filigran, selbst im extremen Fortissimo noch transparent und gegeneinander abgestuft, dabei von höchster Brillanz, ohne die orchestrale Wucht irgendwie zu mindern – das ist eine Meisterleistung eines Orchesters, das es über weite Strecken mit der absoluten Spitzenklasse aufnehmen kann. Zwar unterlaufen auch den Essener Philharmonikern hin und wieder Patzer, aber angesichts der sonstigen Perfektion fallen kleine Ungenauigkeiten auf, über die man bei den allermeisten Orchestern hinweghören würde. Beeindruckend homogen sind die Streicher (wie auch allen anderen Instrumentengruppen), exzellent die Solo-Bläser (herausragend Klarinettist Harald Hendrichs), und exemplarisch seien noch die bravourösen Harfenistinnen Gabriele Bamberger und Nora Baldini genannt, die mit rhythmischer Härte und Präzision ihren Instrumenten Konturen abgewinnen, wie man sie selten wahrnimmt.

Vergleiche bieten sich an

Hatte Steven Sloane mit den Bochumer Symphonikern im Kopfsatz das Collagenhafte wenn auch nicht direkt betont, so doch zumindest berücksichtigt, hört man bei Soltesz stärker den großen symphonischen Aufbau heraus. Immer wieder ist Mahler vorgeworfen worden, „triviale“ Passagen komponiert zu haben. Anders als Sloane – der zum Beispiel manche grelle Marschsequenz hörbar machte – veredelt Soltesz diese Stellen und bettet sie in einen spätromatischen Gestus ein. Sein Mahler ist unter diesem Aspekt „schöner“, aber auch konventioneller als der vielschichtigere Ansatz von Sloane. Im Finalsatz kommen sich beide Dirigenten dagegen durchaus nahe, wenn sie den unerbittlich strengen Rhythmus hervorheben.

Soltesz faßt die letzten drei Sätze zu einer Einheit zusammen, indem er sie nahtlos ohne Pause ineinander übergehen läßt. Das bindet die beiden Vokalsätze in einen großen Zusammenhang ein, allerdings geht die Symmetrie zwischen Kopf- und Finalsatz verloren – restlos überzeugend ist dieser Ansatz nicht. Hinreißend gelingt aber der 5. Satz mit Frauen- und Kinderchor, wo sich zu den prägnant und griffig artikulierenden, dabei klangvoll leuchtend singenden Damen des Extrachores des Aalto Theaters und dem ebenso überzeugenden Aalto Kinderchor (Einstudierung: Alexander Eberle) im Orchester düstere Klänge beimischen, welche die Stimmung ins Melancholische wenden. Solistin Alexandra Petersamer fügt sich mit warmer, fast instrumental geführter Stimme klanglich sehr schön ein. Soltesz verleiht allen vier Mittelsätzen, die gerne gegenüber Kopfsatz und Finale an Bedeutung verlieren, das nötige Gewicht. Zum (von Horst-Dieter Westermann sehr weich und gesanglich gespielten) Posthorn-Solo, das ja von Ferne wie von einer anderen Welt tönt, nimmt er das Orchester so sehr ins Pianissimo zurück, daß die Kontraste fast zu sehr aufgehoben sind.

Gewinner ist das Publikum

Was man sich bei Stefan Soltesz manchmal wünscht, ist eine größere Spontanität - kein Ton, keine Lautstärke, keine Artikulation ist dem Zufall überlassen, und die Aufführung zeugt auch von außerordentlicher Probendisziplin. Aber es bleibt auch ein Moment der Distanz. Sloanes Interpretation war unmittelbarer, in gewisser Hinsicht emotionaler. Soltesz ist, so zumindest das subjektive Empfinden, der grandiose Baumeister, der keinesfalls glättet (er geht mit den Lautstärken bis an die Schmerzgrenze), aber weniger aus dem Augenblick heraus dirigiert. Auch Sloane ist kein „Bauchdirigent“ (das wäre eher Toshiyuki Kamioka, Chefdirigent in der Nachbarstadt Wuppertal, zu nennen), aber seine Interpretation ist unmittelbarer, direkter. Bezeichnend sind in diesem Zusammenhang die Publikumsreaktionen: Bei Sloane und den „Bochumern“ sofort standing ovations, bei Soltesz und den „Essenern“ kultivierter, vergleichsweise verhaltener Applaus mit vereinzelten bravi. Das mag an der Publikumsstruktur liegen, aber auch die kommt ja nicht von irgendwie. Ein Werturteil sollte man indes daraus nicht ableiten: Grandios waren beide Aufführungen. Wollte man da einen Sieger krönen, so müßte es das Publikum sein.


Weitere Informationen: www.philharmonie-essen.de