Die Zerstörung des Kapitalismus - Sonntagmorgen II

Eine zauberhafte Erzählung (neue Fassung)

von Karl Otto Mühl

Karl Otto Mühl - Foto © Frank Becker

Die Zerstörung des Kapitalismus

Sonntagmorgen II


Der Sonntagmorgen schiebt  die Vorfrühlingszweige unseres nahen Waldes beiseite und schaut selbstzufrieden in die Runde: Dies alles gehört heute euch.

Die Bäckerin hat einen Tisch vor das Geschäft gestellt, an dem ich meinen Kaffee schlürfe. Selten kommt jemand vorbei, es ist noch sonntagsfrüh. Manchmal gehen ältere Frauen, die zur Bushaltestelle wollen, mit Geschenkbeuteln oder Blumen vorbei.

Er hat wirklich alles beschafft, dieser Morgen, weiße Wölkchen, zitternde Schatten auf dem Gehsteig vor dem Haus, und - den Zauberstab.

Wilfried, der an diesem Morgen zu Fuß zur Bäckerei kommt, er wohnt in der Nähe,  will die Sonntagszeitung holen, bestellt einen Kaffee und stellt sich neben mich. Er hat diesen erwähnten Zauberstab. Man handhabt ihn wie die Stange bei Stabhochsprung, schwingt sich empor – aber man bleibt oben! Das ist allerdings sehr wichtig.

Alsdann wünscht man sich, daß sich die ganze Welt wie ein weites Tor öffnet, und daß ein Blumenmeer von Freundlichkeit daraus hervorquillt – wie gesagt, Wilfried Sondermann, der Obsthändler kann dies. Und er versteht die seltene Kunst, oben zu bleiben.

Für die alte Frau Schinz hält er immer eine Schale mir ausgewählten Früchten bereit,  sie steht immer eine Weile an seinem Karren und blickt ihn erfreut an. Manchen Kunden gibt er Ware zum halben Preis, aber das ist natürlich nicht die Regel, sonst nimmt er normale Preise, er muß ja auch leben, aber  Sonderposten, die er vom Großhändler Worring oft günstig bekommt, gibt er auch verbilligt ab, und, wenn trotzdem Gewinn verbleibt, läßt er Worring daran teilhaben, der aber nie den gesamten angebotenen Betrag nimmt, und so haben beide Spaß. Die beiden verstehen sich gut, und, als Wilfried den Altbau für 120.000,- Euro kaufen wollte, lieh Worring ihm 50.000,-.  Und, das ist wirklich wahr, heute morgen beim Kaffee vor dem Schaufenster der Bäckerei, gestand mir Wilfried: Worring hat ihm den Betrag erlassen. „Laß man gut sein“, hat er gesagt, „nimm et. Ich werd langsam alt. Das letzte Hemd hat keine Taschen.“

Da es wahr ist, obwohl es sonst nur im Märchen vorkommt, habe ich es hier aufgeschrieben. Da ich im Hauptberuf in der Buchhaltung tätig war, habe ich Wilfried gefragt, ob er denn  irgendwann Geld verdient habe, denn er komme mir sehr großzügig vor. Vielleicht sei er das zu sehr?

Genau dies behaupte seine Frau auch immer, sagt Wilfried. Oder genauer, habe sie immer behauptet. Aber Lenchen Vogel, die für ihn Steuererklärung und Buchführung erledige, finde, daß er jedes Jahr einen soliden Gewinn ausweise – „Ich weiß nicht, wie das kommt. Aber jetzt krieg ich von dem Haus die Mieten, und der Worring läßt mir alles so billig, ich hatt` auch so nette Handwerker, der eine nahm fast nix für das Treppenhaus -“. Dann hat ein Cousin noch eine kleine Fabrikation von kunstvollen Tapeten, und viele  Leute wollen die von Wilfried kaufen, der sie wiederum von seinem Cousin besorgt. Aber auch hier kann er es nicht lassen, sie ab und zu zum Einkaufs-Preis abzugeben.

Während Wilfried in der Zeitung respektvoll auf die Schlagzeilen schaut, in denen prominente  Schauspieler ihre Lebensweisheiten vermitteln, während die Bäckerin im Türeingang steht und den Himmel nach Wetteraussichten überprüft, zwischendurch aber tiefe Züge an der Zigarette tut, während dieser Zeit denke ich über Wilfrieds Lebenshaltung nach. Ich finde, er ist immer fröhlich, und, wenn etwas Trauriges erwähnt wird, ist immer noch ein Zug  von stiller Fröhlichkeit in seinem Gesicht.   Vielleicht hängt dies mit dem anfangs schon erwähnten Zauberstab zusammen.

Irgendwann hat er einmal den hl. Antonius erwähnt, und bei dieser Erinnerung fällt mir der Satz aus der Bibel ein, nach wonach dem gegeben wird, der gibt. Bloß, man darf sich nicht darauf verlassen, sonst ist das Geheimnis zerstört. Der Himmel duldet keinerlei Berechnung.


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008