second_nature - Eine Ausstellung in Luxemburg und Paris

Eröffnung morgen - Kuratiert und mit einem Essay eingeleitet

von Sabine Dorscheid

second_nature
27. Mai – 17. Oktober 2008

Eröffnung: 26. Mai 2008 – 18 h
Öffentlich zugänglich für das Publikum: 27. Mai – 17. Oktober 2008

Montags bis Freitag: 8 – 18 h


PARC HEINTZ / GALERIE L’ INDEPENDENCE // DEXIA BIL
69, route d’Esch, L- 2953 Luxembourg

Zweite Ausstellungsstation: Centre artistique et culturel de CHAMARANDE, (20 km südlich von Paris), Eröffnung: 26.10.2008 (VIP programme FIAC)

Kuratorin: Dr. Sabine Dorscheid // Koordination: Galerie Nosbaum & Reding

Die Dexia Banque Internationale à Luxembourg freut sich eine ungewöhnliche Gruppenausstellung in ihrem Park und Ausstellungshalle anzukündigen:

25 international bekannte Künstler präsentieren in der Ausstellung second_nature über 4 Monate eine große Bandbreite an Zivilisationsphänomenen und wie kulturelle Errungenschaften in die erste Natur eingreifen und sie so zur zweiten Natur transformieren. Erfindungen, der menschliche Genius und Werkzeuge halfen Strukturen zu schaffen, die soziale Bedeutung haben. Religion, Macht, technischer Fortschritt, alle diese zivilisatorischen Kategorien sind in ständiger Veränderung und in Neudefinition. Die Ausstellung wird vom 27. Mai bis zum 17. Oktober im Park Heintz und in der Ausstellungshalle Galerie l’Indépendance zu sehen sein. Die Künstler haben ihre monumentalen Installationen im ganzen Park verteilt – lediglich die Arbeiten, die nicht dem Wetter standhalten (der erste Natur) sind in den Innenraum genommen. Die Präsentation im Park gibt den Arbeiten einen unkonventionellen Rahmen und erlaubt dem Besucher ein Flanieren zwischen den Werken.

second_nature
Ein Essay von Sabine Dorscheid

Der Mensch tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. (...) Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur.
Karl Marx, Das Kapital (1867)1

Die zweite Natur bezeichnet sowohl die Fähigkeit des Menschen, gezielt in seine Umwelt einzugreifen, wie auch das entstehende Resultat dieses Eingriffs. Der Mensch unterscheidet sich dadurch von anderen Elementen der ersten Natur. Diese fortschreitende Naturbeherrschung des Menschen wurde insbesondere seit dem 20. Jahrhundert auch als verwerfliches künstliches Gebilde denunziert. Die Angstvorstellung, daßdie wachsende Naturbeherrschung die Naturwüchsigkeit des Menschen selbst verringere und die (kapitalistischen) Fesseln nur noch enger ziehe, wurde sowohl von völkischen und marxistischen Propagandisten befördert, als auch von etlichen Esoterikern, die dem Menschen einen genügsameren Platz im kosmischen Ganzen zuweisen wollten. Doch gehen wir einmal davon aus, – um mit Adorno zu sprechen – daß die zweite Natur gleichzeitig unsere erste Natur sei.2

Das heißt, daß es die Natur des Menschen ist, in die Umwelt einzugreifen und mit Werkzeugen die Welt zu benutzen. Denn unsere biologische Nische definiert sich durch das vernunftgeleitete Handeln.
Welcher Weg sollte zurück zu einer vermeintlich ersten Natur führen? Der Mensch ist kein Tier. Jede konstituierte Differenz zwischen der ersten und der zweiten Natur ist tatsächlich eine ideologische bzw. eine rhetorische Überlegung. Das rhetorische Spiel mit der ersten und zweiten Natur sowie die Betonung der Unnatürlichkeit menschlichen Verhaltens diente häufig als Erklärung für eklatante Ungleichgewichte in der Welt. Bereits zur Zeit der Frühindustrialisierung glaubte man hier, die Wurzel allen kapitalistischen Übels zu finden:

In dem ersten Stein, den der Wilde auf die Bestie wirft, die er verfolgt, in dem ersten Stock, den er ergreift, um die Frucht niederzuziehen, die er nicht mit den Händen fassen kann, sehn wir die Aneignung eines Artikels zum Zweck der Erwerbung eines anderen und entdecken so – den Ursprung des Kapitals.3

Sobald man sich jedoch über die Vorstellung hinwegsetzt, daß mit Hilfe des Begriffs der zweiten Natur eine allgemeingültige Wahrheit zu ergründen ist, sondern er nur als Gradmesser für unseren eigenen Umgang mit der Natur verwendet wird, hilft er bestehende ideologische Vereinnahmung zu taxieren. Die Ausstellung second_nature vermißt die Grade der unterschiedlichen gesellschaftlichen Naturentfernung bzw. -annäherung. 25 Künstler stellen ihre Kommentare zur ersten bzw. zweiten Natur vor. Es geht nicht darum, eine Rechtfertigung für das menschliche Handels zu suchen, so wie es Heidegger mit seiner Seinshörigkeit versuchte, um so in der zweiten Natur eine Entschuldigung für menschliches Verhalten zu finden. Im Gegenteil, die emanzipatorische Kraft des Denkens und des menschlichen Einwirkens formt ein breites Spektrum innerhalb der ausgestellten Kunstwerke: Ugo Rondinone läßt die Natur für die Kunst sterben; Pedro Cabrita Reis bezieht sich mit seiner Skulptur auf das System Kunst als Zivilisationserrungenschaft, d.h. Kunst als Kunst, die das Erhabene sucht;
die monumentale Weltkugel von Atelier van Lieshout zeigt fiktive Herrschaftsgebiete eines weltumspannenden Sklavenstaatssystems und Erwin Wurm kommentiert die unaufhaltbare Zukunftsgläubigkeit und deren damit verbundene Ästhetik.

Die menschliche Emanzipation von existenzbedrohenden Naturzwängen (Klima, Bedrohung durch Tiere, Beherrschung der Versorgungslage etc.) ist untrennbar mit den technischen und sozialen Fortschritt unserer Zivilisation verbunden. Die Idee von Norbert Elias, die Zivilisation vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert als eine stete Verfeinerung der Sitten und Gebräuche darzustellen, hat etwas verführerisch Einfaches. Die zivilisatorischen Katastrophen des 20. Jahrhundert zeigten jedoch, wie naiv diese Vorstellung war. Elias Behauptung lösten in den letzten 30 Jahren viele Diskussionen aus. Sein schärfster Gegner war Hans Peter Duerr (Der Mythos vom Zivilisationsprozeß).
Der


Marcel Berlanger - Bildplatten o.T.
Katalogbeitrag von Jens Maassen betrachtet vor dem philosophisch soziologischen Hintergrund die Entwicklungen unserer Zivilisation. Eine Überleitung zum zweiten Essay bildet der kleine Text von Karl Marx: Die Produktivkraft des Verbrechens. Marx’ melancholische Überlegung, daß das Böse auch Ursprung und Motivation positiver Kulturäußerungen ist, führt direkt zum Thema von Laurence Massy, die nicht nur Kunstwissenschaftlerin ist, sondern eine der wenigen Kriminalbeamtinnen des belgischen Staates für Kunstdiebstahl. Sie beschäftigt sich mit der dunklen Seite des Kunstmarktes. Diese Parallelwelt zum legalen, öffentlichen Kunstmarkt hat ihre eigenen Gesetze. Kunstwerke von teilweise unschätzbarem Wert werden zu einer eigenständigen Währung in der Welt der Drogen- und Waffengeschäfte. Als unersetzbare Kulturerrungenschaften stellen alte Meisterwerke einen unumstößlichen Wert dar, der zudem recht handlich sein kann, wenn es sich um kleinere Formate handelt. Konventionen und Regelungen, auch die des Kunstmarktes, gehören zur zweiten Natur. Es sind Vereinbarungen und Absprachen, auf die sich die Kunstwelt geeinigt hat.

Dieser Konsens wird durch die Kunstkriminalität unterlaufen. Diebstähle, Schmuggel und der nicht öffentliche Handel mit Kunst in Tauschgeschäften gegen Drogen, Waffen, Diamanten, torpediert den konventionalisierten Umgang mit Kunst. Laurence Massy gibt pittoreske Einblicke in die Unterwelt. Die meisten Kunstwerke von second_nature befinden sich im Park Heintz und treffen hier direkt auf die erste Natur. Der Parcours beginnt mit dem großen Baumstamm von Trixi Weis, die den entwurzelten Baum als Zeichenunterlage benutzt. Verstreut liegen die Kristallstrukturen von Myriam Mechita, dann führt der Weg zu den beiden anthropomorphen Skulpturen von Aline Bouvy / John Gillis vorbei zum langen Rasenweg: Dort befinden sich die überdimensionalen Neonstäbe von Pedro Cabrita Reis, die in den Bäumen hängenden Bildplatten von Marcel Berlanger, die sich drehende Weltkugel von Atelier von Lieshout sowie die verletzlich wirkenden Kinderzelte aus fleischbemustertem Stoff von Gabi Trinkaus.

Vorbei an dem riesigen Readymade von Bertrand Lavier gelangt man auf dem Rasenweg zur Yogafigur von Chris Johanson. Von dort aus führt der Weg Richtung Ruinen. Vorbei an einer parodistischen Gruppe von Gartengeräten, denen Olaf Breuning menschliche Züge gab, gelangt man zu einer archäologisch anmutenden Installation: Hugo Canoilas zeigt uns die Deckengemälde der dort niemals vollendeten Villa Heintz. Im tieferen Gelände des Parks befinden sich drei Videoarbeiten in speziellen Blackboxen: Die Arbeiten von Cyprien Gaillard, Susanne Huth und Eric Baudelaire beleuchten verschiedene Zivilisationsformen am Beispiel französischer Schloß- und

 
Erwin Wurm - Ufo
Gartenarchitektur, der Umgebung von Los Angeles und brennender Vorstädte von Paris. Mitten in der naturbelassenen Wiese taucht das Ufo von Erwin Wurm auf. Ugo Rondinone lädt mit seinem melancholischen Kunstwerk ein, am Fuße des mit silbernem Klebeband umwickelten Baumes Platz zu nehmen und den esoterischen Klängen des überdimensionierten Windspiels zu lauschen. Platz nehmen kann man auch auf den Decken von Simone Decker, die ihren ganzen Reiz entfalten, wenn man sich auf ihnen fotografieren läßt, denn nur die Decke aus retroreflektierendem Material wirft das Licht des Blitzes zurück – die Menschen und die Umgebung verschwinden im unterbelichteten Dunkel.

Neben dem Außenparcours befinden sich auch noch Kunstwerke im Innenraum der angrenzenden Ausstellungshalle, da sie aufgrund ihres Materials der Witterung (also der ersten Natur) nicht standgehalten hätten. Zunächst trifft man auf die 3,50 m große Leinwand von Tina Gillen, die uns eine menschenleere Landschaft präsentiert. Die Architekturen sind wie eine Fata Morgana. Die Flüchtigkeit und Verläßlichkeit der zweiten Natur steht hier zur Diskussion. Die Konstruktion der Realität ist das bestimmende Thema im Innenraum. Chris Burden führt uns auf verführerisch einfache Weise vor, wie das Gute und das Böse in die Welt kommt und wie es auseinanderzuhalten ist: er erfindet eine Geschichte und konstruiert die Merkmale des Bösen. Und in einem hat er Recht: Die Welt ist genau so, wie die Geschichten, die wir über sie erzählen. Eine ganz andere archaische Geschichte wird in dem Filmepos Andrei Rublev von Andrei Tarkovksy (1966) erzählt. Hugo Canoilas baut um kurze Ausschnitte dieses Filmklassikers eine ebenso archaische Kleinstarchitektur und gibt somit den Raum zur historischen Rückschau auf die Anfänge der Zivilisation. Ein Instrument zur Weltvermessung präsentiert uns Rita McBride: eine überdimensionale Schablone mit uneindeutigen Formvorgaben. Gibt es korrespondierende Objekte in der Welt, die damit erfaßt werden können? Oder entwerfen wir erst die technischen Hilfsmittel, um dann die Welt neu zu erfinden? Eine andere Frage der Weltwahrnehmung stellt Una Hunderi, die mit ihren meta-idyllischen Fotografien unsere Klischees von Naturschönheit abklopft. Andrea Witzmann versucht mit ihren Fotografien reale Auswege aufzuzeigen... Auswege von was und wohin? Heraus aus unserer Zivilisation?

Alexander Heim führt mit seinen zerbrochenen Spiegeln reale Ergebnisse von


Olaf Breuning - Parodie
Zivilisationsveränderungen vor, wohingegen Mary Temple natürliche Schatten in den Innenraum holt, die so gar nicht vorhanden sein können. Der Humor ist ein wichtiges Instrument der zweiten Natur. Humor ermöglicht Distanz und Analyse von Vorgängen. Es ist ein Erkenntnismittel, das dem Menschen eigen ist. Lutz/Guggisberg backen eine kleine Flotte. Der archaische Vorgang des Backens, das Grundnahrungsmittel Brot, formt ein Produkt, das so nie gesehen wurde: ein Brotschiff, genauer gesagt ein Containerschiff mit kleinen Lotsenbooten. Über allem liegt das sanfte Plätschern des kleinen Tischbrunnens, den Olaf Breuning mit Hilfe von aufgeklebten Augen zu einem kleinen Monster werden läßt. Die Trashform des alten Renaissancemotivs aus der Gartenarchitektur. Schon damals versuchten die Gartengestalter, die erste Natur zu formen und mit Monstern und Ruinen zu bevölkern.
Der Gestaltungsdrang als fester Bestandteil unserer zweiten Natur. Die Möglichkeit zu dieser Ausstellung ergab sich durch die großzügige Unterstützung der Dexia Banque Internationale à Luxembourg und die Foundation Indépandance. Den Künstlern ist für die facettenreichen Neuproduktionen zu danken, ebenso wie ihren Galerien. Insbesondere gilt mein Dank dem unermüdlichen Einsatz von Alex Reding, ohne den die praktische Umsetzung der Ausstellung nicht möglich gewesen wäre.

second_nature war eine große Herausforderung für alle Beteiligten.

1 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Ungekürzte Ausgabe nach der zweiten Auflage von
1872. Berlin 1932, S. 179
2 Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 1. Frankfurt am Main 1973, S. 365
3 Robert Torrens: An Essay on the production of Wealth. London 1821, S. 79

Künstler:

Atelier van Lieshout (*63, NL), Eric Baudelaire (*73, USA), Marcel Berlanger (*65, B), Aline Bouvy / John Gillis (*74/72, LU/B), Olaf Breuning (*70, CH), Chris Burden (*46, USA), Pedro Cabrita Reis (*56, P), Hugo Canoilas (*77, P), Simone Decker (*68, LU), Cyprien Gaillard (*80, F), Tina Gillen (*72, LU), Alexander Heim (*77, D), Una Hunderi (*71, NO), Susanne Huth (*72, D), Chris Johanson (*68, USA), Bertrand Lavier (*49, F), Lutz & Guggisberg (*68,/66, CH), Rita McBride (*60, USA), Myriam Mechita (*74, F), Ugo Rondinone (*64, CH), Mary Temple (*60, USA), Gaby Trinkaus (*66, A), Trixi Weis (*67, LU), Andrea Witzmann (37, A), Erwin Wurm (*54, A)

Redaktion: Frank Becker