Verloren sind sie alle

Bernarda Horres inszeniert in Krefeld Ödön von Horváths "Der jüngste Tag"

von Peter Bilsing
Verloren sind sie alle



Brillante Inszenierung von Horváths „Jüngstem Tag“ durch Bernarda Horres am Stadttheater in Krefeld


Regie | Bernarda Horres  -  Bühne und Kostüme | Anja Jungheinrich  -  Musik | Mark Polscher  -  Dramaturgie | Vera Ring  -  Fotos | Matthias Stutte

Thomas Hudetz | Stefan Diekmann  -  Frau Hudetz | Ines Krug  -  Alfons | Sven Seeburg  -  Der Wirt | Joachim Henschke  -  Anna | Floriane Kleinpaß  -  Ferdinand | Christopher Wintgens  -  Frau Leimgruber | Petra Förster *  -  Ein Arbeiter / Kommissar 1 / Toter 2 | Adrian Linke  -  Ein Vertreter / Kommissar 2 / Toter 2 | Ralf Beckord


Vor gut 20 Jahren inszenierte der damalige Generalintendant der Rheinoper, Kurt Horres, Horvaths Schauspiel „Der jüngste Tag“ in der Opernfassung von Giselher Klebe am Düsseldorfer Nachbarhaus. Keine schlechte Produktion; meine Beurteilung lautete damals „etwas überladen.“ – jetzt gibt es Horvath spätes Schauspiel pur als beeindruckendes und unter die Haut gehendes Drama von seiner Tochter, Bernarda Horres, grandios inszeniert. Das leider halbleere Krefelder Stadttheater erlebte am Samstag einen seiner besten Abende. Schade, dass die Niederrheiner anscheinend an wirklich gutem Sprechtheater – und was haben sie da an den Vereinigten Bühnen von Krefeld & Mönchengladbach für eine erlesen engagierte Schauspieltruppe – nur so wenig Interesse zeigen.

Dankenswerter Weise hat die sensible Regisseurin das Stück nicht aktualisiert; Bernarda Horres hat das Drama einfühlsam gekürzt und die Personage reduziert. Sie setzt einige komödiantische Signale, bevor sie in den ganz großen Spannungsbogen des Stücks eindringt und uns Zuschauer wie in einen Mahlstrom mitreißt; wesentliches atmosphärisches Moment ist die Musik, sind Töne und Geräusche; dazugesteuert von Mark Polscher, der versucht Stille hörbar zu machen. Das Bühnenbild von Anja Jungheinrich zeigt eine triste Bahnhofsfassade mit vorgezogener Spielfläche erweitert auf dem hydraulisch bewegbaren Orchestergraben. Wenn diese Fassade in den Traumszenen hochfährt, traversiert ein realistischer Gleisstrang die Bühne - eindrucksvoll schwebend und alptraumhaft vor dunklem Hintergrund platziert. Im Finale signalisiert er ein Memento Mori an die 18 sinnlosen Opfer, deren kleine Bilder den Schienenstrang zieren, wie Erinnerungskreuze im heutigen Straßenverkehr. Das sind fein ausziselierte Bilder von großer Suggestivkraft.

Dabei verordnet die Regisseurin den Darstellern eine durchaus realistische Spiel- und Handlungsebene ohne diese in Kunstsprache zu verfallen zu lassen; besonders bei den metaphysischen Szenen kann sie sich ganz auf die herausragenden Darsteller und deren durchweg großartige Bühnenpräsenz verlassen. Alle sind intelligent und erfahren genug die Horvathsche Stille nicht über die Maßen zu zelebrieren und beherrschen ihre Sprachsignale, so daß auch leise Töne bis in die letzte Reihe verständlich sind. Was heutzutage nur noch an wenigen Theatern so eindringlich erlebbar ist.

Stefan Diekmann gibt eine Idealbesetzung in der Rolle des „Thomas Hudetz“, aber auch Ines Krug als seine Frau und Sven Seeburg als ihr Bruder beeindrucken. Da ist dieser Hudetz nicht nur einmal auf der Schwelle zum Woyzeck. „Wir arme Leut!“

In den anderen Figuren stecken die Abgründe; sei es der schmierige Wirt, der seine Tochter nicht nur inzestuös begrapscht, sondern auch stets trotz aller Betuhlichkeit gefährlich, wie eine Klapperschlange oder ein Killerhund wirkt - von Joachim Hentschke gnadenlos überzeugend gespielt – Klasse!

Ja, da sind sie! Haargenau jene Ebenbilder des ekeligen und gemeinen Kleinbürgermileus, die Horváth sein Leben lang zu plakatieren versuchte. Genau wie diese Frau Leimgruber, eine Horvátsche Modell-Figur, welche Petra Förster perfekt interpretiert. Sie ist des Volkes „harmlose“ Stimme, die krude Nachbarin („Haben Sie schon gehört?“), die sich stets neugierig und oberflächig freundlich geriert, aber doch in Wahrheit nur Bösartigkeit und Missgunst repräsentiert.

Da fehlt uns noch die Naive, die Illusionsvergessen Irrationale, welche die Katastrophe auslöst:

Anna, die Wirtshaustochter - durch Floriane Kleinpaß bezirzend ausgefüllt. Ihr quirliges, kleinmädchenhaft keckes Auftreten chargiert irgendwo zwischen Lolita und Schulmädchen-Einfalt. Dem simplen Gemüt des brutalen Metzgergesellen Ferdinand verleiht Christopher Wintgens mehr als nur rüde Einfallt.

Die Charaktere sind ganz im Sinne Horvaths prachtvoll und ohne allzu viel Wiener Schmäh angelegt. Jeder trägt seine Schuld, hat eigene Leichen im Keller. Konversation ist eigentlich nur permanente üble Nachrede. So lügt sich ein jeder seine kleine Welt zurecht und ist scheinbar zufrieden. Offiziell ist keiner ist schuld. Der Meineid und die Lüge sind an der Tagesordnung, als befänden wir uns im Deutschen Bundestag. Gott wird es schon richten! Er  hat´s ja immer getan.

Zurecht steht daher am Bahnhofsportal auf dem Ortschild des Gottverlorenen Kaffs: „Dich selbst“. Erst Jeder für sich, dann aber schnell auch mal „alle gegen einen“ wenn´s nötig wird. „Dich selbst“ jedoch steht nicht nur für diese feindselige Dorfgemeinschaft. „Dich selbst“ ist das nicht unsere heutige Welt? Mitdenken macht betroffen, tut weh. Wie unglaublich aktuell ist doch dieser Horváth noch heute!

Aktuell auch der Gestus der Feier inszeniert als das Ende einer komatösen Sauforgie, in dessen Verlauf durchaus mal jemand über die sprichwörtliche Klinge springen könnte. Da ist es nur der Umschwung eines Stimmungsmomentes, welcher Leben rettet. Genauso gut könnte der Wirt sein Töchterlein vergewaltigen, oder Ferdinand seine Verlobte verprügeln – alles ist möglich. Und doch eint sie eins auf tragische Art und Weise: Verloren wirken sie alle.

Bernarda Horres und ihr Team bringen uns Horvath mehr als hautnah auf die Bühne. Die perfekt inszenierte Stille wirkt dabei so gefährlich, wie der bedrohliche Lärm durchdonnernden Güterzüge. Hinter dem Vogelgezwitscher lauert das Grauen.

Selbst der beste Regisseur kann ein Drama nur so gut inszenieren, wie es die Schauspieler zulassen. Gestern gab es am Krefelder Haus in diesem Sinne eine Sternstunde. Das war wirklich ganz großes Theater! Tadellose Schauspielkunst ohne Schnörkel, Manierismen oder platte Modernisierung + gute Schauspielkunst! – genau so wie es sich die meisten Theatergänger in Umfragen immer wünschen… und keiner geht hin. Es ist zum Heulen!


Nächste Vorstellungen: Nur noch dreimal in Krefeld: 7.6. (mit Kleinkinderbetreuung) und 17./19.Juni (Kartenbestellung: 02151 - 805 125 oder www.theater-kr-mg.de ) Danach in der folgenden Saison in MG-Rheydt.