Hosen runter!

Molières "Tartuffe" in Essen

von Andreas Rehnolt

Lukas Graser (Damis), Andreas Grothgar (Tartuffe) und
Bettina Engelhardt (Elmire) im Essener "Tartuffe". Foto Arno Declair
Essener "Tartuffe" läßt die Hosen runter

Drastische Inszenierung des Moliere-Stücks
über einen falschen Frömmler
im Grillo-Theater
als letzte Premiere der laufenden Spielzeit


Essen - Eine sowohl drastische als auch äußerst rasante Inszenierung von "Tartuffe" hat zum Ende der laufenden Spielzeit den Premierenreigen im erfolgreichen Essener Grillo-Theater beendet. Regisseur Rafael Sanchez ließ "seinem" Tartuffe die Hosen runter. Mariane und Velere treiben es minutenlang auf dem Bühnenboden und einem der beiden unschulds-weißen Sofas, die neben dem auf Tücher gemalten barocken Hauses des wohlhabenden und frommen Bürgers Orgon die einzigen Requisiten sind.

Aufgebauscht und nabelfrei

Die berühmte Geschichte des falschen Frömmlers, der sich im Zeichen des Kreuzes Haus, Vermögen und Frau Orgons erschleichen will, pendelt in der Inszenierung zwischen Barock und dem Jahr 2008. Bettina Engelhardt als Orgons Frau Elmire trägt einen aufgebauschten Rock mit hoher Frisur, die vorlaute Zofe geht knie-, die Tochter bauchnabelfrei und Andreas Grothgar als Tartuffe kommt kahlköpfig in vermeintlich jungfräulich-weißem Anzug und mit einem unübersehbaren Kreuz um den Hals geschlängelt.
Während der von Werner Strenger schon fast zu hündisch-ergeben gespielte Orgon und dessen Mutter Tartuffe vollkommen hörig sind, ihn lobpreisen und beschenken wie einen Götzen, hält der Rest der Familie ihn zu Recht für einen betrügerischen Scheinheiligen, der nur auf Geld und Macht aus ist. Doch je mehr sie die Doppelmoral Tartuffes brandmarken, desto inniger bekennt sich der Hausherr zu dem Schmarotzer und bietet ihm sogar seine Tochter an, die er eigentlich Valere versprochen hatte. Selbst, als Elmire und der Sohn Damis ihrem Vater von einem aufdringlichen Liebesgeständnis des Heuchlers berichten, glaubt Orgon dem Schleimer und nicht den Seinen. Der Sohn wird enterbt, stattdessen wird das gesamte Hab und Gut Tartuffe überschrieben.

Heute wie gestern

So weit Moliere, dessen Stück bei der Uraufführung 1664 sofort verboten wurde und für das ihm von religiösen Eiferern sogar der Scheiterhaufen angedroht wurde. Schade, daß der junge Regisseur, der in der kommenden Spielzeit die Leitung des Zürcher Theaters am Neumarkt übernimmt, die Komödie bis auf Sonnenbrille, hochhackige Schuhe und Espresso-Täßchen nicht auch inhaltlich auf's Hier und Heute inszeniert hat. Schließlich gibt es immer noch teils selbsternannte religiöse Führer, die es immer wieder schaffen, selbst vernünftigsten Menschen komplett den Kopf zu verdrehen. Erst, als Tartuffe mit blankem Hintern auf dem ans brillante "Dinner for one" erinnernden Tigerfell Elmire an die Wäsche geht, erkennt Orgon das wahre Gesicht des Heuchlers.
Sanchez, der Bühnenbildner Thomas Dreißigacker und die Kostümbildnerin Ursula Leuenberger suchen in der aufs heftigste mit Applaus bedachten Inszenierung nach einem Molière für heute, ohne platt und plakativ zu aktualisieren. Ihr Konzept hat prallen Witz, barocke Opernarien verorgeln sich so, als würde dem Plattenspieler der Saft abgedreht. Mitunter sind die Akteure auf der Bühne nur schemenhaft wie Schattenspiel-Figuren zu sehen oder bewegen sich wie in Zeitlupe und mit automatenhaften Gesten. Das alles sorgt beim Publikum für herzhafte Lacher und mitunter Freudentränen. Köstlich und bitterböse zugleich, wie der intrigante Tartuffe fast geifernd und homo-erotisch mit Orgon ein Vaterunser betet. Immer das Kreuz vor sich haltend, als wolle er aus seinen Gegnern den Antichrist austreiben.

Gute Unterhaltung, bei der mehr drin gewesen wäre

Während bei Moliere die drohende Familienkatastrophe durch das Eingreifen des Königs im letzten Moment verhindert und der Schwindler festgenommen wird, landet Sanchez mit dem Erscheinen von Mitgliedern des Raumschiffs "Enterprise" von der Sternenbasis 205 einen zwar außerirdischen, aber auch reichlich klamottigen Schluß-Einfall für seine zweite Regiearbeit am Essener Schauspiel. Zwar bietet die letzte Premiere der zu Ende gehenden Spielzeit gute Unterhaltung, aber es gibt keine inhaltliche Auseinandersetzung. Moliere hatte mit seiner bitterbösen Satire auf die falschen Frommen zu Zeiten des Sonnenkönigs und ihre heuchlerischen Unterstützer gezielt, die damals eine Interessenkoalition bildeten und deren gesellschaftlicher Einfluß gefährlich wucherte. Und auch die Frage, womit um alles in der Welt der Biedermann an Tartuffe zu kleben scheint, bleibt in Essen unbeantwortet.