Der alltägliche Schrecken der Diktatur

György Dragomán - "Der weiße König"

von Stefan Schmöe

Der alltägliche Schrecken der Diktatur

Dieses Buch ist wie ein Paukenschlag: So aberwitzig, gleichzeitig poetisch wie ernüchternd, ist das traumatische Erleben einer osteuropäischen Diktatur bisher wohl nicht beschrieben worden. György Dragomán, 1973 im rumänischen Transsylvanien geboren, hat als Heranwachsender die Schrecken von Ceaucescus totalitärem System, das die ungarische Minderheit im Land zunehmend drangsalierte, selbst erfahren müssen. 1988 siedelte die Familie nach Ungarn über, wo Dragomán heute als Filmkritiker, Übersetzer und Schriftsteller arbeitet. Geschrieben hat Dragomán seinen 2005 erschienenen Roman in ungarischer Sprache; jetzt liegt er, von Laszlo Kornitzer brillant übersetzt, bei Suhrkamp auch für das deutsche Publikum vor.

Dragomán wählt die geschichtslose Perspektive des elf Jahre alten Dzsáta, um die Auswirkungen der Ceaucescu-Diktatur zu beschreiben. Geschickt balanciert er zwischen zwei Ebenen. Die politische Dimension wird deutlich durch die Verschleppung des Vaters in ein Straflager, mit der das Buch beginnt und die den Roman wie eine Klammer zusammenhält. Dabei ist der Vater offenbar keineswegs ein ausgewiesener Dissident, sondern lediglich Unterzeichner einer Petition nicht näher erwähnten Inhalts. Die andere Ebene ist der alltägliche Überlebenskampf eines Pubertierenden in einer völlig verrohten Gesellschaft, bei der in der Schule wie auf dem Bolzplatz unbarmherzig das Recht des Stärkeren gilt. Vor allem im ersten Teil des Buches schockiert immer wieder die Gewalt, die hier wie selbstverständlich zwischen allen handelnden Personen herrscht.

Aufgebaut ist der Roman als Ansammlung von 18 in sich geschlossenen Episoden (und jede für sich genommen schon ein Kunstwerk), die sich erst nach und nach zu einem größeren Zusammenhang verbinden. Das hebt das Anekdotische hervor: Hier erlebt ein Kind stellvertretend die Auswirkungen der Diktatur ganz unmittelbar in Momentaufnahmen, die parabelhaft das Geschehen überhöhen. Bestechend ist Dragománs lakonische Sprache, mit der er die Geschehnisse unsentimental verdichtet und mit leicht spöttischem Tonfall überzieht.  Bezeichnend für den fatalistischen Humor ist das Kapitel „Ventil“, in dem Zsáta zunächst (des verhafteten Vaters wegen) aus der Schulsportmannschaft ausgeschlossen wird, dann als erwiesen guter Sportschütze unter falschem Namen doch antreten soll, allerdings mit der Vorgabe, knapp zu verlieren: Der bevorzugten Schule der Funktionärsgarde darf der Sieg keineswegs strittig gemacht werden. Dragomán treibt die Spirale der Absurditäten hier noch um einiges weiter. Über allem aber liegt permanent eine klaustrophobische Stimmung von Angst, Gewalt und Einschüchterung.

Gut und Böse sind moralische Kategorien, die in dieser Atmosphäre keinen Platz haben. Selbst innerhalb der Straßenbanden, die gegeneinander Krieg führen, herrscht gnadenlose Brutalität. Ist ein Erwachsener freundlich, so steckt immer eine böse Absicht dahinter. Nur die Eltern des Jungen erscheinen im besseren Licht. Im Kontrast dazu steht der Großvater, ein hoch dekorierter ehemaliger (und inzwischen gänzlich machtloser) Parteifunktionär. Vater wie Großvater bleiben namenlos, man erfährt nur, daß sie den gleichen Namen tragen (wie auch der pubertierende Ich-Erzähler, der nur seinen Spitznamen Dzsáta preisgibt). Dragomán baut ein System kunstvoller Unübersichtlichkeit. Opfer sind, von den Eltern einmal abgesehen, hier immer auch Täter, Dzsáta selbst eingeschlossen. Er hat schnell gelernt, daß nicht Worte, sondern Hiebe, Tritte und Einschüchterungen die entscheidenden Argumente sind. 

Die nahende Revolution wird nur vage angedeutet – und auch da von hehren Idealen keine Spur. Dragomán gibt seinem Erzähler Dzsáta im letzten Kapitel eine Brechstange in die Hand, mit der er in ohnmächtigem Zorn hinter dem Fahrzeug der Geheimpolizei herläuft. Hilf- und Machtlosigkeit und ein tiefschwarzes Geschichtsbild prägen diesen Roman, der dabei so fesselnd geschrieben ist, daß man sich dem Sog der Sprache nicht entziehen kann. Das ist schreckliche, große Literatur.
Beispielbild

György Dragomán
Der weiße König

(Originaltitel: A fehér király, erschienen 2005 bei Magvetö, Budapest)
Aus dem Ungarischen von Laszlo Kornitzer

© 2008 Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main
ISBN-10 3518419625
ISBN-13 9783518419625
Gebunden, 295 Seiten, 19,80 €

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