Der Riß

eine merkwürdige Begebenheit

von Joachim Klinger

Joachim Klinger - Foto © Frank Becker
Der Riß


Diese Geschichte habe ich von meinem Freund Karl. Er ist ein soli­der Bauingenieur, ein nüchterner Mensch. Wenn er sich für den Wahrheitsgehalt verbürgt, dann muß die Geschichte stimmen, so unglaubhaft sie auch manchem Zeitgenossen erscheinen mag. Also hier ist sie!

Die Familie Mühlenbeck - Vater, Mutter, drei Kinder und ein Hund - wohnte beengt. Umso freudiger nahm sie die Nachricht von Tante Mathilde auf, sie wolle in ein Altenheim umsiedeln und stelle daher das väterliche Haus, eine geräumige Villa aus den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts, ihren einzigen Verwandten, das waren die Müh­lenbecks, zur Verfügung. Das Haus befand sich in ruhiger Lage und am Arbeitsort von Herrn Mühlenbeck. Das erhöhte seine Attrakti­vität. Außerdem gehörte zu ihm ein großer verwilderter Garten. Das reizte die Kinder. So bereitete die Familie Mühlenbeck rasch und frohgestimmt den Umzug vor und verließ das Mietshaus in der häßlichen Wohnsiedlung ohne Bedauern.
Das Haus von Tante Mathilde bot viel Platz, so viel Platz, daß es schwierig wurde, die Möbel zu verteilen und allen Zimmern ein­deutige Funktionen zuzuweisen. Zum Schluß blieb noch ein Raum übrig, der in keiner Weise gebraucht wurde und auf Wunsch der Kinder dem Hund vorbehalten blieb. Sie nannten ihn „Hundezim­mer".
Als sich Familie Mühlenbeck eingerichtet hatte, nahm sie eine mehr­stündige Besichtigung des ganzen Hauses vor und zeigte sich da­ nach zufrieden. "Tante Mathilde ist ein Engel“, sagte Herr Mühlen­beck behaglich. "Noch nicht“, merkte Frau Mühlenbeck an, "aber wenn du damit sagen willst, daß sie Gutes getan hat, dann hast du sicherlich recht!“
Wenn alles in schönster Ordnung ist, dann stellt sich in der Regel eine Störung ein. Das lehrt die Lebenserfahrung. Es muß kein großes Unheil sein, aber etwas Unangenehmes pflegt zu passieren. Leider auch im Falle der Familie Mühlenbeck, der man gewiß ungestörtes Glück im Hause ihrer Tante Mathilde gewünscht hätte.
Lothar, der älteste Sohn von Mühlenbecks, bemerkte die Störung als erster. Er deutete auf den Giebel des Hauses, als die Familie im Vor­garten stand, und sagte: "Da ist ein Riß!“ "Unsinn!“ rief sein Vater ärgerlich, der sich des unerwarteten Glücks noch lange erfreuen wollte, und schüttelte heftig den Kopf. "Also, ich sehe nichts“, sagte die Mutter, nachdem sie ihre Augen lange mit der rechten Hand be­schattet hatte. Die Geschwister Paul und Alice zeigten sich nach ei­nem flüchtigen Blick auf den Giebel desinteressiert und hüpften über die Steinplatten des Gartenweges auf die Terrasse, wo sie mit heftigen Armbewegungen flügelschlagende Lebewesen imitierten. "Aber ich sehe den Riß!“ beharrte Lothar, und am nächsten Morgen sahen ihn auch Frau Mühlenbeck, Paul und Alice, während Herr Mühlenbeck schweigend seine Brille putzte und rasch zur Arbeit ging.
Ein Riß ist nichts Schlimmes. Es ist wie eine Altersfalte und verleiht Charakter. Das sagten am Abend die Eltern Mühlenbeck, und die Kinder Paul und Alice kümmerten sich nicht um ihn. Sie übten, wie Standbilder im Garten zu stehen. Das sah komisch aus und reizte den Hund Rolf ungemein.
Am nächsten Morgen bemerkte Lothar den Riß auch in seiner Zim­merdecke, aber nun sagte er nichts. Seinem Hang zur Genauigkeit folgend, machte er eine Notiz in seinem Tagebuch und stellte in den folgenden Tagen genaue Beobachtungen an. Der Riß zog sich vom Giebel bis zur Haustür und verlief innerhalb des Gebäudes durch Zimmer decken und Fußböden, als wolle er das Haus in zwei Hälf­ten teilen. Paul z.B. merkte nichts in seinem Zimmer, und auch das "Hundezimmer" blieb unversehrt. Aber alle zur Mitte des Hauses gelegene Räume durchzog der feine Riß. Man hätte sich an ihn gewöhnen können, wenn. . . ja, wenn er nicht größer geworden wäre. Aber leider entwickelte er sich zum Spalt, durch den man eine Hand schieben oder einen Stock stecken konn­te. Schließlich wurde auch Vater Mühlenbeck besorgt. Lange hatte er sich gegen die Einsicht gewehrt, Spezialisten zu Rate zu ziehen.
Aber nun wurde es Zeit
Er sprach mit einem Bauingenieur, meinem Freund Karl, einem Landvermesser, einem Professor für Geologie, einem Wünschel­rutengänger und einem pensionierten Zechendirektor. Das Ergeb­nis: Karl stellte durch Material- und Bodenuntersuchungen fest, daß "das Haus arbeite". "Was heißt das ?" wollte Herr Mühlenbeck wis­sen. "Es liegt eine starke Spannung vor", erklärte Karl, "das treibt die Bausubstanz auseinander." "Und dann?" fragte Herr Mühlen­beck. Karl zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. "Das kann man nicht wissen."
Der Riß wurde breiter. Mühlenbecks verschoben Möbel und legten Bretter aus. Über den Dachboden spannten sie Plastikfolien von der einen Seite zur anderen, um das Eindringen des Regens zu verhin­dern. Die Kinder übten sich im Sprung über den Spalt und fanden die Entwicklung abenteuerlich und vergnüglich.
"Bald haben wir zwei Haushälften“, jammerte Frau Mühlenbeck, "wie sollen wir das Ganze zusammenhalten?“
Herr Mühlenbeck telefonierte mit Ämtern und Behörden, Sachver­ständigen und Wissenschaftlern, Wahrsagern und Ratgebern, Rund­funkanstalten und Wetterstationen. Alle sprachen von "Spannun­gen“, die in unserer Gesellschaft vorhanden seien und nicht einmal Friedhöfe verschonten. Die Erdatmosphäre sei zu sehr belastet, das Eindringen ultravioletter Strahlungen rapide angestiegen. Verwer­fungen in der Erdkruste seien täglich zu verzeichnen, und die Son­nenprotuberanzen hätten zugenommen. "Und unser Haus?“ fragte Herr Mühlenbeck. Aber darauf wußten sie keine Antwort.
Frau Mühlenbeck, von Natur aus praktisch veranlagt, organisierte die Überwindung der Spaltung mit Brücken und Hinweisschildern. Sie gewann der Situation positive Seiten ab, in dem sie Schling­pflanzen ansiedelte und phantasievolle Vorhänge anbrachte.
"Wichtig ist, daß niemand zu Schaden kommt!“ sagte sie. Die Kin­der fanden das Haus viel aufregender als vorher und malten sich die weitere Entwicklung aus. Paul, der zu Katastrophen-Visionen neigte, prophezeite: "Eines Tages, in einer Nacht, wird ein großes Stöhnen hörbar. Dann bricht das Haus ganz auseinander und zer­fällt mit dröhnendem Donner!“ Alice, von Natur aus positiv und hoffnungsvoll gestimmt, sah die Einfügung einer „wunderbaren Mauer leicht wie Nebenschleier und silbern wie der Klang einer Harfe" voraus und hoffte auf ein "Schloß wie im Märchen". Aber es kam ganz anders.
Lothar bemerkte es als erster. Wen wundert das?! Der Spalt wurde schmaler. Die Dielenbretter knackten, die Möbel stöhnten, die Wände knirschten, hin und wieder rieselte ein wenig Mörtel. Das Haus schob sich zusammen.
Die beiden Haushälften strebten nicht mehr auseinander, sie näher­ten sich zusehends.
Die Bodenmessungen ergaben ein Nachlassen der Spannungen. Die Materialprüfung verhieß positive Aussichten. Ein Professor doku­mentierte die Entwicklung fotografisch und sonstwie. Eines Tages war es so weit. Lothar sagte: "Der Riß ist weg!" In der Tat: Kein Riß mehr, kein Spalt, keine Fuge!
Tante Mathilde kam zu Besuch. Sie fand das Haus in seinem übli­chen äußeren Erscheinungsbild vor und war zufrieden. Die wenigen Bodenbewegungen im Garten, die zu kleinen Wällen und sanften Gräben geführt hatten, blieben ihr verborgen.
Lothar wollte ihr von dem Riß erzählen. Aber dann gab er es auf. Wie sollte er das beweisen? Und hätte es Tante Mathilde nicht nur beunruhigt?
Mühlenbecks haben keine Probleme mehr mit dem Haus. Nur manchmal erinnert Lothar an den Riß und lacht.


© Joachim Klinger - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008