Kleistpreis für Wilhelm Genazino

Wilhelm Genazinos neuer Roman als Hörbuch: Sylvester Groth liest "Mittelmäßiges Heimweh"

von Stefan Schmöe
Fehlende Brechungen

Die Kunst von Wilhelm Genazinos neuem Roman "Mittelmäßiges Heimweh" – an anderer Stelle in den Musenblättern besprochen – besteht darin, die banalsten, trostlosesten und selbstmitleidigsten Regungen seines monologisierenden Erzählers mit einer feinen Ironie zu umhüllen, die an vielen Stellen offen läßt, ob der Text noch beim Wort zu nehmen ist oder sich bereits selbst parodiert. Dieser Dieter Rotmund erscheint im Wechsel (und teilweise auch gleichzeitig) als Opfer der Verhältnisse, philosophierender Beobachter innerhalb der Handlung, als groteske Kunstfigur und als Sprachrohr des Autors, und je nach Blickwinkel kann man an vielen Stellen die eine oder andere (oder auch mehrere) dieser Facetten wahrnehmen. In dieser Vielschichtigkeit liegen Anspruch wie Gefahr für jeden, der aus dem Roman vorliest, und ganz besonders daher für die Hörbuchfassung, die der Verlag Hoffmann und Campe kurz nach Erscheinen des Buches herausgebracht hat.

Eben diese Vielschichtigkeit kann Sylvester Groth nicht zum Ausdruck bringen. Er liest mit sehr angenehmer Stimme aus der Perspektive des Ich-Erzählers, fasst diesen als reale Figur auf, die sich mit heiligem Ernst wie mit sanftem und bösem Spott über die Gegenwart empören kann und darin durchaus auch komische Züge hat. In Teilen des Romans geht das auf, auf die Dauer fehlt aber die höhere Ebene, und dann geraten Rotmunds Tiraden zu einer Mischung aus Pathos und Weinerlichkeit, der die Brechung an Genazinos hintersinnigen Formulierungen fehlt. Auf Dauer stellt sich eine Monotonie ein, die zwar zur Grundstimmung des Romans gehört, aber im Text durch die Doppelbödigkeit der Formulierungen kontrastiert wird. Eben dies geht in der Hörbuchfassung weitgehend verloren.

Vielleicht eignet sich "Mittelmäßiges Heimweh" grundsätzlich nicht zum Vorlesen, weil man die Klangmöglichkeiten und Variationen von Genazinos Sprache in der eigenen Phantasie durchspielen muß. Jedenfalls bietet die Hörbuchfassung keine echte Alternative zum Buch. Bleibt in diesem Fall nur das (lohnende) Selbstlesen.

Aktueller Nachtrag der Redaktion:
Dem Schriftsteller Wilhem Genazino wurde auf Empfehlung des Schauspielers Ulrich Matthes der Kleistpreis 2007 zugesprochen.  Genazino, der 2004 bereits den Büchner-Preis erhalten hat, zählt zu den großen deutschen Romanciers der Gegenwart. Der Preis, mit 20.000,- € dotiert, wirde ihm am 25. November 2007 in Berlin überreicht.

Beispielbild

Wilhelm Genazino
Mittelmäßiges Heimweh

Ungekürzte Lesung mit Sylvester Groth

Verlag Hoffmann und Campe, 2007
5 CD; Gesamtspieldauer: 316 Minuten
ISBN 978-3-455-30521-0
€ 24,95

Weitere Informationen unter
www.hoffmann-und-campe.de

Romanvorlage:
Wilhelm Genazino
Mittelmäßiges Heimweh
Roman

2007 Carl Hanser Verlag, München

192 Seiten
Flexibler Einband
€ 17,90

Weitere Informationen unter
www.hanser.de