Leonard Bernsteins "Candide"

...die beste aller möglichen Musikwelten in Gelsenkirchen

von Peter Bilsing
„Candide“ – Bernsteins Liebeserklärung an die Europäische Musik
 
Gelungene Saisoneröffnung am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen
 
Eine neue Intendanten-Ära mit einem so tollkühnen wie auch schwierigen Stück wie Bernsteins „Candide“ zu starten, ist mehr als mutig. Immerhin hatte der Komponist selber über 30 Jahre an dieser „komischen Operette“, immer mit dem stetigen Gedanken einer Opernsatire im Hinterkopf, herumgewerkelt. Als das Stück 1989 endlich fertig war und in einer brillanten Gesamtaufnahme mit dem London Symphony Orchester veröffentlicht wurde, starb der Maestro.
 
Dank YOU TUBE kann sich ein jeder heutzutage immer noch ein Bild von der Sache machen: Die begnadete Ouvertüre: http://www.youtube.com/watch?v=422-yb8TXj8 und hier das Finale: http://www.youtube.com/watch?v=tgXMxhMhYm4 – tragische letzte Bilder von einem der Größten. Bilder, die noch einmal erinnernd aufzeigen, was Bernstein (der größte und wahrhaftige Dirigent mit Herz, Schmerz und echter Leidenschaft) darstellte und wie er fühlte. Ich muß zugeben, daß ich Tränen in den Augen hatte bei diesen Aufnahmen. Ein halbes Jahr später war er tot.
 
Leibnitz vs. Voltaire - eine Nummernrevue

Worum geht es in „Candide“? Bernsteins Werk basiert auf Voltaires Satire „Candide, ou

Voltaire hebt an...
l´optimisme“; diese erschien 1759 – erst einmal anonym, denn er war nicht lebensmüde. Ein Kaleidoskop von Kurzgeschichten im Stil einer Nummernrevue, die sich vor allem gegen die allzu positive Weltanschauung von Leibniz, der „die beste aller möglichen Welten“ postulierte, richtete. Voltaire nannte sein Werk selber „einen trivialen Scherz.“ Obwohl sofort verboten, verbrannt und vom Papst auf den Index gesetzt, von Kollegen beschimpft und als degoutant verpönt, war es dennoch ein großer Erfolg. Die Handlung des Romans, die von Bernstein übernommen wurde, rankt sich um einen, trotz aller Widrigkeiten des Lebens, unbelehrbaren Optimisten, der fest an den Kernsatz aus der „Theodizee“ von Gottfried W. Leibniz glaubt: „Gott schuf die vollkommenste aller Welten“. Die ostentativ boshafte Lustigkeit, mit der das Stück trotz aller vorher durchlittenen Greuel endet, lautet „wir müssen unseren Garten bebauen“.
 
Peer Gynt und Parsifal


...und Candide lauscht
Candide ist eine Art „Peer Gynt“ im Sinne des wagnerschen Parsifals: ein tumber Tor. Doch während dieser sich entwickelt und reift, bleibt Candide immer noch dummer Knabe und findet die „beste aller möglichen Welten“ am Ende zwischen Blumentöpfen. Voltaire bietet sprachgewaltig poetische Sinnbilder – Bernstein eine sagenhaft geniale Musik, einen rasanten Streifzug durch praktisch alle Genres der Welt-Musik unserer Tage. „Candide“ ist ein Sammelsurium zahlreicher Tanzrhythmen, Bach-Choräle, Musical-Zitate, mit einem veritablen Autodafé a la Verdi, wir hören Gilbert und Sullivan, diverse Wagnerzitate, manches erinnert an Puccini und Strawinsky. Koloraturverarbeitungen der französischen und italienischen Oper perlen herausvorderungsvoll bis hin zu Strauß´schen Walzern und dazwischen immer wieder Operettenseligkeit und puristischer Offenbach. Ein blühender Garten von Musik, den man beim ersten Hören gar nicht erfassen kann. Zurecht spricht der Fachmann von der letzten großen und besten Operette des 20. Jahrhunderts. Ein grandioses, praktisch zeitloses Meisterwerk!
 
Musikalische Quantensprünge

Schon nach den ersten Takten der Ouvertüre, die wie ein Wirbelsturm daher kommt, hört man in Gelsenkirchen, daß der neue GMD Rasmus Baumann das Stück verstanden und viel gearbeitet hat. Große Orchesterbesetzung erfordert große Probenarbeit, und was die einzelnen Musiker an Kabinettstückchen hier leisten müssen, ist hart - man achte nur auf die Wahnsinnstriller der verschieden Flöten oder die Irrsinsfigurinen der Streicher; dagegen ist die Tannhäuser-Ouvertüre fast ein Zuckerschlecken. Baumann dirigiert die enormen Quantensprünge in der Dynamik genauso sicher wie die kammermusikalischen Ruhephasen, wenn Candide seine elegischen Lyrismen haucht – eine Gratwanderung orchestraler Vielfältigkeit zwischen ppp und fff. Das Orchester folgt seinem GMD zielgenau. Sogar die Trompeten und Tuba der Blechbläser überraschen entsprechend.
 Wenn das musikalische Niveau der Neuen Philharmonie Westfalen so bleibt, dann alle Achtung! Vielleicht hat aber auch endlich einmal ein Dirigent mit Rückgrat das bisher ständige Wandern (Reise nach Jerusalem) kurzfristig nicht eingesetzter Orchestermitglieder endlich verboten – ich konnte es aus der 6. Reihe nicht sehen, werde es aber im Auge behalten.
 
Sprachwitz und Lars Rühls Traumstimme


Auf der Suche nach...
Gott sei Dank kommt endlich jemand darauf, daß trotz allem trockenen Sprachwitz des Originaltextes dieses hochschwierige Stück sich in Deutschland einzig und allein in deutscher Sprache verkaufen läßt. Und man hat auch verstanden, daß es sich nur mit erstklassigen Solisten dem Publikum mitteilt. Der Verzicht auf Mikroports ärgerte zwar einige Besucher im zweiten und dritten Rang, aber ich erinnere mich noch an die Zeiten, wo dieselben Herrschaften sich über zu hohe elektronische Lautstärke bei Musicals beschwerten.
 Die Regie von Gil Mehmert und seinem Team ist grandios gelungen. Er setzt auf Nummernrevue und choreografiert auch noch die kleinste Ecke der Showbühne von Alissa Kolbusch perfekt aus. Nun hat er in Joachim G. Maas aber auch einen genialen Künstler, der sich in seiner Moderatorenfunktion souverän wie eine Klapperschlange durch den Löwenkäfig zu schlängeln vermag und am Ende doch nicht gefressen wird. Ein Sänger, der so perfekt zu moderieren versteht, wie er auch gesanglich überzeugt. Das ist ganz große Klasse! Doch die Krone gehört für mich dem Star des Abends, einer Entdeckung: Lars Rühl. Mit der Sprech- und Sangesbrillanz der vergessenen Gattung eines Spieltenors verblüfft er die Zuschauer. Was für eine Stimme! Was für eine Textverständlichkeit, selbst noch im gehauchten ppp. Was für ein Versprechen für die Zukunft. Mein absolutes „Bravo!“ Hier entwickelt sich bei weiterhin guter Arbeit ein Mozarttenor und Operettentenor vom Feinsten. Darüberhinaus hat Rühl Ausstrahlung und Persönlichkeit. Hoffentlich bindet man ihn langfristig an das Haus. Eine Traumstimme!
 
Optimale Besetzung

Natürlich hat das Haus weiterhin mit den in Operette und Musical bisher gut geschulten zuverlässigen Allstars Anke Sieloff (Paquette) und William Saetre (Diverse Figuren) die ergänzend optimale Besetzung und auch die weiteren Solisten fielen nicht ab. Ein Sonderlob für Diana Petrovas Koloraturen am Ende der Wahnsinnsarie „Glitter and be gay“ – es gibt wahrscheinlich kaum etwas Schwierigeres in der Opernwelt zu singen – sozusagen der Teufelstriller für gepflegte Kehlen. Eine Mischung aus Mozarts „Der Hölle Rache“, der „Glöckchenarie“ Delibes mit einem Schuß „Casta diva!“ Irrsinns Kehlkopfartistik im Wahnsinnstempo! Brava und unfaßbar.
 
Die Kostüme von Steffi Bruhn passen sich in ihren feinsinnigen Details glänzend den Reise-Episoden an, und Christian Jeub hat den aktionsreichen Chor des MiR mal wieder auf Höchstform getrimmt.
Besser kann ein Saisonauftakt kaum gelingen. Gratulation an die neue Direktion und satte 5 Sterne vom OPERNFREUND.
 
P.S. Zum Inhalt:

Nun, Sie wollen den Inhalt dieser völlig überdrehten und blödsinnigen „Comic operetta“ doch nicht ernsthaft auch noch hören, oder? Bitte fahren Sie nach Gelsenkirchen: Es erschließt sich dann alles viel logischer und schöner, bunter und musikalischer! Also gut:
 
1.Akt: „Die beste aller möglichen Welten“ liegt auf Schloß Thunder-ten-thronckh in Westfalen. Hier

Huch - die Inquisition!
sind die Blagen des Barons und der Baronin, Maximilian und Cunigunde, zusammen mit Candide und Paquette, groß geworden. Ihr Hausdozent Dr. Pangloss ist ein hoffnungsloser Optimist und hat alle zu dem Glauben erzogen, den auch unsere Bundeskanzlerin frönt: Diese Welt ist schön - alles paletti!
Candide, eine Art schwachbrüstiger, aber potenter Siegfried-Tölpel ist eigentlich der Bastard des Barons. Dumm, daß er sich genau zu dem Zeitpunkt in Cunigunde verliebt, als ein Krieg zwischen Bulgarien und Westfalen ausbricht, wann immer das auch war. Irgendwann und irgendwo ist ja immer Krieg. Candide wird des Schlosses verwiesen und nimmt Dienst in der bulgarischen Armee; Dr. Pangloss begleitet ihn nicht nur ins Kriegsgetümmel, sondern völlig unlogischerweise auch noch durch alle weitere Episoden der Oper(ette), die für ihn öfter mal mit dem Tode enden. Die bulgarischen Soldaten sind natürlich keine Mörder, verwüsten aber im Sinne der Vorwärts-Verteidigung dennoch Candides Heimatland und massakrieren die Bevölkerung. Collateral Damage! Enttäuschung über die Metzeleien und Schweinereien des Krieges motivieren Candides und Maximilians Flucht nach Holland. Dort trifft er Jacques, den Wiedertäufer, und wieder mal Dr. Pangloss, der schwer an Syphilis erkrankt ist, aber immer noch an die beste aller Welten glaubt und froh ist, in ihr zu leben. Das Gute kommt eben nicht ohne das Schlechte aus. Ying und Yang- Prinzip. Man beschließt nach Lissabon zu fliehen. Dort angekommen, werden alle Zeuge eines Erdbebens – Jacques stirbt und Candide wird verschüttet. Danach gerät Dr. Pangloss in die Hände der Inquisition und wird aufgehängt, Candide nur ausgepeitscht. Verzweifelt kann er nach Paris entkommen. Dort trifft er Cunigunde wieder, mittlerweile Dame des Personal-Services-Gewerbe und Favoritin des Erzbischof bzw. eines jüdischen Bankiers. Candide tötet die beiden und flieht mit Cunilein und deren Gesellschafterin nach Cadiz. Auf Rat des Negersklaven Cacambo will er nun sein Glück in der Neuen Welt versuchen, von der er hofft, daß sie besser als die alte ist. Vielleicht sogar die Beste aller…..
 
So, jetzt erzählen Sie das bitte einmal kurz in eigenen Worten nach -  danach folgt der zweite Teil, während in der Oper erstmal verdiente Pause ist!
 
2. Akt: Südamerika: Paquette & Maximilian, der sich ebenfalls nach Buenos Aires retten konnten,

Kuddelmuddel im Dschungel
sollen als Sklaven an den Gouverneur verkauft werden. Dieser hat sich in Cunigunde verliebt, die seine Liebe erwidert, und er versucht nun den mittlerweile steckbrieflich gesuchten Candide zu verhaften. Unser Held und Cacambo fliehen in den Dschungel und treffen auf die Jesuiten von Montevideo (hatte ich Ihnen zuviel versprochen?). Deren Anführer ist zufällig unser Maximilian, den Candide umgehend tötet, weil dieser ihm die Hand seiner Schwester verwehrt. Auf der Flucht erreichen das neue/alte Liebespaar und Cacambo Eldorado, wo sie Gold finden und von den Indianern reich beschenkt werden. Na, wenn das nicht das beste aller möglichen Länder ist? Es existieren nur Friede, Freude, Eierkuchen, Gemeinschaftsdenken, Teamfähigkeit und allgemeiner Reichtum. Das muß der wahre Sozialismus sein, bevor er von der DDR erschlagen wurde.
Doch Candide schlägt vor, sich zu trennen und wieder in Venedig zusammenzukommen. Sein Schiff, das dem Kaufmann Vanderdendur gehört, geht aber unter, doch eine Galeere, auf der Dr. Pangloss als Sklave rudern muß, rettet die Schiffbrüchigen. Candide kauft Dr. Pangloss frei und gelangt mit ihm nach Venedig. Preisfrage: Wo ist jetzt aber Cunigunde? Cunigunde und Paquette sind schon seit eine Weile dort und leben vom Straßenstrich. Maximilian, der Erschlagene, ist jetzt Polizeichef von Venedig. Candide merkt langsam, daß nicht nur die holde Cunigunde, sondern auch diese ganze blödsinnige Geschichte nicht das ist, was er gesucht hat. Sein Hauslehrer hatte unrecht mit seinem Optimismus. Also verzeiht er seiner Cunigunde, läßt sich auf einem Bauernhof nieder und trifft dort natürlich alle seine Freunde nebst Chor und Statisten wieder - man singt „Make our Garden grow“ und pflanzt ein Bäumelein. „Any questions?“ Nein? „Vorhang!“


Eine Übernahme mit freundlicher Erlaubnis des "Opernfreund" - Redaktion: Frank Becker