Donnerstagmorgen

Stehcafé VIII

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Mittwochmorgen
 
Stehcafé VIII
 
 
Heute ist wieder ein regennasser Morgen. Am großen Dreieckstisch in der Bäckerei steht der Beschäftigungslose. Vielleicht ist er chronisch krank, Frühinvalide. Egal, es reicht für den fröhlichen Morgenkaffee und für das Päckchen Zigaretten, das immer bereitliegt. Diesmal ist er ohne seine mollige Gefährtin hier, vielleicht sucht er deshalb gleich nach meinem Kommen Kontakt.
„Sie laufen ja jeden Tag im Wald herum“, sagte er zutraulich. „Meinen Sie, dann lebt man länger?“
„Keine Ahnung“, antworte ich, „aber ohne das würde mir was fehlen.“
„Sehen Sie“, sagt er, „ich brauche das nicht. Gutes Material, wissen Sie. Mein Vater ist fünfundneunzig geworden. Der trank auch jeden Tag sein Schnäpschen. Ich merke, daß mir das gut tut.“
„Manche denken da ja anders“, sage ich.
„Unsinn! Ich weiß was ich sage. Mir schaden auch die Zigaretten nicht. Niemand schaden sie, wenn er ein Kerl ist. Und, glauben Sie mir, ich habe immer recht. Ich weiß auch nicht, wie das kommt.“
„Daß Sie immer recht haben?“
„Ja. Habe ich ja.“
„Das ist eine Gabe der Natur an Sie“, sage ich. „Sie haben eben Glück gehabt.“
„Muß wohl so sein.“
„Das Bier schmeckt ihm eben. Dann bekommt es einem auch“, sagt die Bäckerin vieldeutig.
 
Jetzt kommt die Gefährtin. Sie pummelig, kommt in Latschen. Ihren Hund hat sie draußen an der Hauswand befestigt. Ein kleiner Hund, eine Art Insektenhund.
 
Der Alkoholiker schlägt eine Illustrierte auf. Sie soll sich das herrliche Bild ansehen:  Ein Schimpansenweibchen, das behaglich auf dem Rücken liegt. Auf ihr ein Tigerbaby. Sie schmusen miteinander, küssen sich sogar.
 
„Man kann sich so richtig vorstellen“, sagt mein Nachbar, „wie wir uns so aus den Affen heraus entwickelt haben.“ Die Gefährtin blickt ihn abwägend an: „Wenn man länger hinguckt, sieht man aber, daß du keiner bist.“
 
„Nein“, erwidert er. „Wir sind doch höhere Wesen.“


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008