Was kuckstu!

Max Frischs "Andorra" - an dem Wuppertaler Bühnen von Kathrin Sievers aufge"Frischt"

von Frank Becker

Was kuckstu?

Kathrin Sievers vergleicht in ihrer Wuppertaler Inszenierung von Max Frischs "Andorra" Äpfel mit Birnen



Inszenierung:
Kathrin Sievers - Ausstattung: Annette Wolf - Dramaturgie: Alexandra Jacob - Licht: Sebastian Ahrens - Ton: Timo Mann, Thomas Müskens - Maske: Barbara Junge-Dörr - Fotografie: Michael Hörnschemeyer
Andri: Frederik Leberle - Barblin: Maresa Lühle - Lehrer: Georg Lenzen - Mutter: Julia Wolff - Senora: An Kuohn - Pater: Andreas Ramstein - Soldat: Henning Heup - Wirt: Hans Richter - Tischler: Thomas Braus - Doktor: Andreas Möckel - Geselle: Thomas Birnstiel - Putzfrau: Jessica Cremer


Treffen sich `n Türke und `n Deutscher in der Disco...


Muß man die Stufen Spendenbereitschaft, Mülltrennung, Wochenendparadies und Zuverlässigkeit ersteigen, um Sicherheit und Lebensqualität zu erreichen? Die offene Bühne in der Wuppertaler Inszenierung von Max Frischs "Andorra" suggeriert es. Daß Tradition und Innovation über allem stehen, beschreibt wohl den Wirtschaftsstandort Deutschland. Kathrin Sievers hat in ihrer Neufassung des Stoffes das omnigeographische Land der Vorurteile, das Max Frisch in den Köpfen der Menschheit angesiedelt hat, plakativ nach Deutschland heute verlegt. Das macht es für das

Leberle - Kuohn - Heup - Statisten
junge Zielpublikum leicht, zu leicht, das brisante Thema mißzuverstehen. Sievers geht noch einen Schritt weiter, indem sie - völlig unzulässig und sehr gefährlich - das grauenhafte Schicksal der deutschen Juden mit der Fiktion eines vorgeblichen Türkenhasses vergleicht. Zwar läßt sie das Buch weitgehend unangetastet, doch den "Jud" Andri permanent in den Kontext türkischer Musik von "Ceza" und Sezen Aksu zu rücken und ihm als Widerpart ein Neonazi-Klischee in Bomberjacke und Springerstiefeln entgegenzustellen, ist unangemessen. Dann auch noch den Soldaten Frischs als üblen Nazi-Schläger darzustellen, ist
zumindest ungeschickt und gegenüber der deutschen Bundeswehr etwas instinktlos.

Dröhnender Rap und brüllendes "Oi!"


Nunja, das junge Publikum (s.o.), das den Stoff im Schulunterricht durchgenommen hatte, wurde angesprochen und fand

Heup - Leberle
sich in der Inszenierung zurecht. Türkischer Rap und Neonazi-Gegröle in ohrenbetäubender Lautstärke wird erkannt und macht den jungen Leuten nichts aus, kann aber beim erwachsenen Publikum nicht unbedingt auf schmerzfreie Ohren stoßen. Gewisse Situationen wie ein gar zu übler Türkenwitz, von Andi (Fredrik Leberle) erzählt, die Darstellung des charakterschwachen Vaters (Georg Lenzen) oder der brutale Mord an Andi durch den "Soldaten" (Henning Heup) zogen beim überwiegend jugendlichen Publikum durchaus ablehnende Reaktionen nach sich, denn das Weltbild und die Vernunft der Jugend sind offensichtlich völlig in Ordnung. Ihnen jetzt aber erzählen zu wollen, daß "der Türk" wie einst "der Jud" gering geschätzt und seiner "Andersartigkeit" wegen gefürchtet und verachtet wird, ist mehr als billig - ja sträflich. Das verbiegt sicher bei einigen das bisher intakte Gesellschaftsbild.

Vom Unvermögen

Was allerdings quälend gut vermittelt wird, sind die Erkenntnise, die sich an die Parabel knüpfen:
Vorurteile schlummern vielleicht in jedem von uns - sei wachsam! Die Unfähigkeit, zuzuhören ist erschreckend verbreitet. Der Fehler, die Wahrheit
zurückzuhalten, anstatt sie im rechten Moment auszusprechen, und die Unfähigkeit, klare

Wolff - Möckel - Leberle
Aussagen zu machen,
wirken sich fatal aus. Das Unvermögen oder der Unwillen, Fragen zu beantworten, wo Klarheit hilfreich wäre, kann schreckliche Folgen haben. Hier weckt Sievers die Aufmerksamkeit für virulente gesellschaftliche Probleme, die alle Lebensbereiche betreffen.
Wie gut übrigens, daß wir hierzulande keine militant-fundamentalistischen Christen haben, die wegen der blasphemischen Kreuzigungs-Parodie Andris das Theater mit wüsten Drohungen überziehen. Ob das in unserer liberalen Gesellschaft auch mit Mohammed-Satire möglich wäre? Aber dazu sind unsere Kulturschaffenden seit dem Karikaturen-Streit im eigenen Lande wohl schon zu verschreckt.


Glänzende Leistungen

Frederik Leberle dominiert als Andri durchweg die Szene. Glänzend in seiner Freude, seinem Zorn, seiner Auflehnung und der unglücklichen verbotenen Liebe zu Barblin (Maresa Lühle), in seiner fast hyperaktiven Dynamik hat er Stück und Publikum fest im Griff. Er hat sich nicht erst damit in die erste Riege des Wuppertaler Theaters gespielt und erntete zu

Leberle - Lenzen
Recht tosenden Applaus. Andreas Möckel als Doktor zeigt ebenfalls ein weiteres Mal seinen hohen Rang als Charakterdarsteller, Lenzen berührte mit seiner Verkörperung des schwachen und feigen Vaters und Henning Heup erwarb sich durch die brillante Darstellung des undankbaren Parts des Fieslings Verdienste, die vom Publikum deutlich honoriert wurden. Anschauen lohnt - man muß dafür nicht unbedingt mit der Inszenierung einverstanden sein.



Weitere Informationen unter: www.wuppertaler-buehnen.de