Denn die Zeit schreit nach Satire

Eine Glosse

von Johannes Vesper
"Denn die Zeit schreit nach Satire"
Eine Glosse von Johannes Vesper


„Wenn die Börsenkurse fallen,
regt sich Kummer fast bei allen,
aber manche blühen auf:
Ihr Rezept heißt Leerverkauf.
 
Keck verhökern diese Knaben
Dinge, die sie gar nicht haben,
treten selbst den Absturz los,
den sie brauchen - echt famos!
 
Leichter noch bei solchen Taten
tun sie sich mit Derivaten:
Wenn Papier den Wert frisiert,
wird die Wirkung potenziert.
 
Wenn in Folge Banken krachen,
haben Sparer nichts zu lachen,
und die Hypothek aufs Haus
heißt, Bewohner müssen raus.
 
Trifft’s hingegen große Banken,
kommt die ganze Welt ins Wanken -
auch die Spekulantenbrut
zittert jetzt um Hab und Gut!
 
Soll man das System gefährden?
Da muss eingeschritten werden:
Der Gewinn, der bleibt privat,
die Verluste kauft der Staat.
 
Dazu braucht der Staat Kredite,
und das bringt erneut Profite,
hat man doch in jenem Land
die Regierung in der Hand.
 
Für die Zechen dieser Frechen
hat der Kleine Mann zu blechen
und - das ist das Feine ja -
nicht nur in Amerika!
 
Und wenn Kurse wieder steigen,
fängt von vorne an der Reigen -
ist halt Umverteilung pur,
stets in eine Richtung nur.
 
Aber sollten sich die Massen
das mal nimmer bieten lassen,
ist der Ausweg längst bedacht:
Dann wird bisschen Krieg gemacht.“
 
In vielen Tageszeitungen und Journalen, u.a. auch in der WZ, wurde dieses Gedicht  abgedruckt und Kurt Tucholsky zugeschrieben. 1930 soll er es in der „Weltbühne“ veröffentlicht haben. Man traut Tucholsky alles zu, jede Satire. Aber selbst er der begnadete Satiriker hat nicht vorhersehen können, was sich Banker zu Beginn des 21. Jahrhundert alles haben einfallen lassen, um an das Geld von Anlegern zu kommen. Leerverkäufe waren der Verkauf-Shit, mit denen es den Bankern gelungen ist, Anleger und die Wirtschaft zu ruinieren, während die Banken selbst schnell unter den aufgespannten Schutzschirm des Staates kriechen.
Kurz: das Gedicht stammt natürlich nicht von Tucholsky, sondern von dem Pensionär Richard Kerschhofer (al. Pannonicus) aus Wien und es wurde 2008  gedichtet. Viele sind darauf hereingefallen, eine läßliche Sünde in diesen Tagen, denn „die Zeit schreit nach Satire“ (Tucholsky).
 
 
Wiedergabe des Gedichtes mit freundlicher Genehmigung der „Preußischen Allgemeinen Zeitung“
(dort erschienen am  27. September 2008)  - Web-Seite: www.ostpreussenblatt.de