Un(be)lehrbar

Eine Gedankensenke

von Andreas Steffens

Foto © Zbigniew Pluszynski
Gedankensenke

Eine Kolumne von Andreas Steffens
senke eine ausgehöhlte form, andern dingen darin ihre gehörige gestalt zu geben’ Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch



Un(be)lehrbar
 
Für U.D.



Du kannst nicht im Schreiben und Lesen unterrichten, wenn du es nicht selber kannst; viel weniger lehren, wie man recht leben soll, wenn du es selbst nicht tust
, lautet das 29. Stück im 11. Buch der >Selbstbetrachtungen< des Marc Aurel.
Das ist die ethische positive Wendung des Grundsatzes, der zum negativen Urgebot moderner Moral werden sollte, nichts zu tun, von dem man nicht bereit sei, es von anderen zu erdulden: Was du nicht willst, das dir man tu, das füg auch keinem andern zu.
Der kaiserliche Philosoph der Spätantike wußte es besser: man soll tun können, was man von anderen erwartet; man soll von anderen nicht fordern, was man selbst zu leisten weder imstande, noch bereit ist.
Diese winzige Differenz ist eine ums Ganze: eine Ethik, die aus Geboten besteht, wird immer den kürzeren ziehen gegenüber einer, die zu vermeiden empfiehlt, dessen Befolgung den, der es einforderte, überfordern müßte. Es kann verantwortlich sein, etwas zu lassen; erfüllt aber wird Verantwortung nur in richtigem Tun.
Für die wichtigste unter den Aktualisierungen antiken Denkens liegt darin, daß es zwar Lebenskunst geben kann, aber keine ‚Schule’, in der sie gelehrt werden könnte. Das wußte Epikur, dessen einzige ‚Lehre’ darin bestand, das Schlechte zu vermeiden, und darauf verzichtete, den Gewinn des Guten einzuüben. Wer sie hat, genießt sie, ohne zu analysieren, wie; bedacht wird Lebenskunst von dem, der sie - noch - entbehrt. Von ihrem Philosophen läßt sich nur lernen, wie es sein könnte, sie zu haben: aus dem Blickwinkel des Suchens nach ihr, das der schon hinter sich hat, der von ihr berichten kann: man muß haben, worüber man spricht. Wenigstens eine Vorstellung davon.
Eine Philosophie der Lebenskunst hat von dieser nichts zu lehren, da aus der, die einer für sich gewann, nichts nachgemacht werden kann. Eine jede ist für die, die sie als Lehre aufzunehmen und schließlich anzuwenden streben, nichts als der Bericht eines Münchhausen des eigenen Lebens, der erzählt, wie es ihm gelang, sich an den Haaren seiner Reflexion aus dem Sumpf seiner Lebensunbilden zu ziehen. Die Empfehlung, die in einem solchen ‚Seht, wie es mir glückte’ liegt, läßt sich nicht befolgen: werdet wie ich, und auch euch wird es gelingen. Denn dieses Gelingen ist an die Person gebunden: jeder hat wie sein eigenes Leben auch seine eigene Kunst, es zu führen. Wenn anders, ein Seneca, ein Marc Aurel, ein Montaigne hätten ausgereicht, Europa die Kunst glücklichen Lebens beizubringen.
Für den, der es dennoch nicht lassen kann, zu lehren, folgt daraus das unerläßliche Gebot, sicherzustellen, es selbst schon zu sein, bevor er daran geht, andere über das zu unterrichten, wovon er überzeugt ist, daß man es sein solle. Wer nicht ist, wozu er andere machen will, wird aus ihnen machen, was keiner zu sein wünschen kann: Krüppel unerfüllbarer Ideale.
Dieses erste und einzige Gebot jeder Lehre macht alle Pädagogik hinfällig, außer der einen des Vorbilds. Jede Erziehung scheitert an ihrem Ziel. Zu einem Selbst, das ihr einziges Ziel doch sein müßte, macht jeder nur sich selbst.
Das einzig legitime Gebot jeder Lehre richtet sich an den Lehrenden: wisse zu erkennen, wie beschaffen ist, wozu du anderen verhelfen willst. Kompetenter als der gesunde, heilt der kranke Arzt: desto besser, je einsichtiger eigene Krankheit ihm Wert und Art der Gesundheit werden läßt.
Auf sein skandalöses Doppelleben angesprochen, soll der katholisch konvertierte Freigeist Max Scheler geantwortet haben, ein Wegweiser gehe nicht selbst den Weg, den er weise. Das war die verschämte Finte eines Denkers, der es aufgegeben haben mochte, ein Weiser werden zu wollen, der durch Beispiel der Wegweiser wäre, der sein zu wollen seine Weisheit ihn doch immer zurückhalten muß.
Die Replik brachte ihm die Verachtung des unerbittlich kritischen Adorno ein, der in ihr das verächtlichste Beispiel geistiger Vulgarität zu tadeln fand.
An solchem Rigorismus der reinen Moral wird deutlich, wie unendlich wertvoll die Bedächtigkeit einer Ethik ist, die nicht fordert, sondern zu vermeiden lehrt: Der Philosoph, der bekennt, der Weiser seiner Lehren nicht sein zu können, löst das Leben aus dem Zwang, sein zu müssen, was es nicht sein kann. Gut, wenn ein Philosoph ist, was er lehrt; aber wenn er es nicht ist, entwertet es die Einsicht seines Denkens nicht, wenn es eine ist; ist sie wahrhaftig, bleibt sie es. Eine Wahrheit wird nicht dadurch zur Lüge, daß sie von einem Lumpen ausgesprochen wird.
Niemand soll die Einhaltung eines Maßes einfordern, das er selbst  nicht erfüllt, oder erfüllen könnte, nicht wenigstens sich bemüht, es zu erfüllen; aber ein Maß, das eines ist, bleibt eines, wie wenig der, der es benennt, ihm selbst auch standzuhalten vermag.
Was einer nicht ist, soll er nicht fordern; aber was einer erkannte, muß er nicht sein, um es zu äußern.


© Andreas Steffens - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008