Drei Stunden, die das neue Jahr bereits adelten

Neujahrskonzert in der Philharmonie Essen

von Peter Bilsing
Menschen, hört die Signale…
 
Überragendes Neujahrskonzert mit HK Gruber,
dem WDR Sinfonieorchester, Ute Gfrerer
und den Berlin Comedian Harmonists
 

Meine letztjährige Kritik zum „etwas anderen Neujahrskonzert“ am 2. Januar 2008 von HK Gruber in der Essener Philharmonie – mit Stücken von Schwitters, Antheil, Gershwin, Strawinsky, Weill und Bernstein - übertitelte ich mit „Neujahrswahnsinn“ und sprach von einem „begnadeten Jahresauftakt“. Weiter: „Wer so etwas auf den Konzertplan setzt, ist mutig. Intendant Michael Kaufmann erklärte, daß er ein solch „alternatives Neujahrkonzert“ zukünftig regelmäßig initialisieren möchte. Es ist zu hoffen, daß ihm das Publikum folgt, denn brillanter, lehrreicher, unterhaltsamer und augenzwinkernd charmanter kann man auf musikalischer Seite kaum ein neues Jahr beginnen.“
 
Erfüllte Wünsche

Heute darf ich feststellen, daß unser aller Hoffnungen sich erfüllt haben. War die Philharmonie im vergangenen Jahr nur halbvoll, so waren gestern fast 90 Prozent der 2.000 Plätze verkauft. Gutes spricht sich halt rum. Ich nehme es vorweg: Dieses Jahr war es noch besser. Da gerät man als Kritiker dann in die Bedrouille, wenn man sein verbales Repertoire an Lobeshymnen im Grunde schon so verschossen hat. Also spreche ich jetzt von einem „überragenden Konzert“ und einer fantastischen musikalischen Leitung des WDR Orchesters und der Solisten. Da freut man sich, denn schöner kann das neue Jahr 2009 musikalisch kaum begrüßt werden. Ich wünsche mir, es könnte für die Zukunft öfter heißen: „Beethoven Ade; es leben Weill und Co.“.
 
Daß gerade die „Sieben Todsünden“ von Weill - mittlerweile gottseidank herausgelöst aus dem kommunistischen Dunstkreis selbsternannter Volkserlöser und eines menschenverachtenden Unterdrückerregimes – schon zum Fast-Repertoire heutiger Musiksäle gehören, ist zum großen Teil der unermüdlichen Arbeit eines Weill-Wahnsinnigen (er möge mir diesen Ehren-Titel verzeihen!) namens „Heinz Karl Gruber“ zu verdanken.
 
HK Gruber Superstar

HK Gruber ist ein Unikum, eine besonders sympathische Persönlichkeit, die sich nicht nur um die zeitgenössische Musikszene Österreichs mehr als verdient gemacht hat. Bunt schillernd mit Wiener Charme und Schmäh, aber kein „Berufswiener“, wie er spitzbübisch immer wieder verkündet. Der 1943 in Wien geborene ehemalige Sängerknabe spielte fast 30 Jahre als Kontrabassist beim Wiener Radio-Sinfonie-Orchester, ist seit 1961 im legendären Wiener Ensemble „Die Reihe“ tätig und wurde dort im Jahre 1983 Nachfolger von Friedrich Cerha. 1968 gründete HK Gruber mit Kurt Schwertsik und Otto M. Zykan ein in der zeitgenössischen Musik mit kabarettistischen Einlagen und instrumentalem Theater erfolgreiches Ensemble „MOB art und tone ART“. Gruber nennt sich heute frech Chansonnier, Komponist und Dirigent. Daß er auch als fundierter und amüsanter Small-Talker bezeichnet werden darf, bewies er vor dem zweiten Teil des Konzerts einmal mehr durch eine kurze Rückblende in die Zeit und das musikalische Umfeld der 20er und 30er Jahre. Hier quillt sein engagiertes Herz über, wenn er immer wieder versichert und auch mit lehrreichen Anekdötchen und Apercus belegt, daß Kurt Weill in der Tat kein Außenseiter ist, sondern zu den größten deutschen Komponisten gerechnet werden muß.
 
Was alleine zählt, ist die Musik. Und zu Weills besten Stücken gehören sicherlich „Die sieben Todsünden“ (1933), die alle aufgeweckten Neujahrkonzertbesucher in einer exzellenten Umsetzung genießen durften. Daß dieses Ballett nicht szenisch aufgeführt wurde ist zu verschmerzen, wenn man so großartige Solisten wie Ute Gfrerer, die Berlin Comedian Harmonists und das vielleicht weltbeste Orchester für Werke des 20. Jahrhunderts, das „WDR-Rundfunk-Sinfonie-Orchester-Köln“, zur Verfügung hat.
 
Leuchtend: Weill, Brecht und Ute Gfrerer

Worum es geht: Brecht/Weill legen mal wieder die Scheinheiligkeit bürgerlicher Moral offen. Anna lebt

Ute Gfrerer - Foto: Veranstalter
mit ihrer Familie in den Staaten. Ihr Ziel ist ein eigenes Häuschen. Dafür wird Anna geopfert und geht schizophren zugrunde. „Die sieben Todsünden“ sind keine direkte Reminiszenz an die Todsünden der katholische Kirche. Weill gab diesen Sünden eine kleinbürgerliche Dimension, da geht es ausschließlich ums Weiterkommen mit allen Mitteln, um die persönliche Karriere, Geld und den gesellschaftlichen Aufstieg, der sich in der Unterschicht durch den Erwerb eines kleinen Häuschens in Louisiana verwirklicht. „Todsünden“ werden von den Familienmitgliedern kurzfristig zu erstrebenswerten Tugenden erklärt. Ein Männergesangsquartett agiert im Sinne des klassischen Chores. „Sein Glück machen“ realisiert sich in Anpassung, Selbstaufgabe, Erpressung und Prostitution. Am Ende nach sieben Jahren ist die verlogene Familie, die sich allesamt als kleine Zuhälter gerierten, scheinbar glücklich und zufrieden.
 
Das Stück steht und fällt mit der Hauptrolle der Anna. Ute Gfrerer verfügt nicht nur über das darstellerische Format, gerade diese Doppelzüngigkeit von Anna I und II perfekt über die Rampe zu bringen, sondern auch die opernhafte Kantilene, welche jede Darstellerin der Anna schon allein dem großen Anteil an sinfonischer Musik im Stück schuldet. Dabei entfernt sie sich völlig von der übertriebenen Theatralik klassischer Vorbilder wie Lotte Lenya, Gisela May oder einer Marianne Faithfull. Gferer interpretiert die Rolle ganz in der neueren Tradition großer Opernsängerinnen wie Teresa Stratas, Sophie von Otter, Brigitte Faßbaender oder Anja Silja. Große Namen, große Fußstapfen in welche die junge Ute Gfrerer da tritt, aber sie überzeugt und trägt die Rolle mit der nötigen Empathie für Musik und Sprache spannungsvoll ins Publikum. Dabei bewies sie, wie schon im letzten Jahr bei ihrer „Lady in the dark“, daß sie sich nicht nur tief und eingehend mit dem musikalischen Idiom Weills auseinandergesetzt hat, sondern auch in der Lage ist, dieses in ihrer eigenen, persönlichen eher chansonhaften Auslegung zu interpretieren. Großer Beifall vom fachkundigen Publikum und fünf satte, leuchtende Sterne vom Opernkritiker.

H. K. Gruber dirigiert die Kölner WDR-Musiker mit dem Herz und Engagement eines Lenny Bernstein. Wunderbar. Einmalig! Und wenn er am Ende die Partitur zum enthusiastischen Beifall des Publikums, jubelnd, in die Luft hält, dann ist das keine Show, kein Manierismus, sondern signalisiert seinem Publikum: „Jawohl, Ihr habt diese tolle, einmalige Musik verstanden! Dank an Euch, Dank an die Musikern – danke Weill!“
 
Überzeugend: Die Berlin Comedian Harmonists


Foto: duo-phon
Im zweite Teil des Abends ertönten die klassische Hits der Comedian Harmonists, wiedergegeben von ihren modernen Berliner Epigonen, aber strikt im Stil und dem Charme der Zeit. Es zeigte sich nachhaltig, daß solche Musik immer noch ein großes, sogar junges Publikum begeistern kann. Dabei bewiesen sie, daß sich durch zeitgemäßen Schwung, Spontanität, Lockerheit und Frische der Charme der 20er Jahre auch 2009 noch überzeugend reflektieren läßt – ganz im Gegensatz zum routiniert und lieblos langweilig aufspielenden Max Rabe Palast Orchester, dessen Auftritt sich vor 3 Wochen an gleicher Stelle doch schwer auf meinen Magen schlug.
 
Zu den vielen „verbrannten Noten“ der Nazizeit gehört auch Kurt Eislers Musik zum Film „Kuhle Wampe - oder Wem gehört die Welt“ (1932); ein proletarischer Film aus der Weimarer Republik. Interessant, daß er nicht nur in Deutschland, sondern auch im wahren Arbeiter- und Bauernstaat Sowjetunion schnell verboten wurde. Hitler und Stalin in antikünstlerischer Umarmung. Schon allein diese Tatsache ehrt sicherlich Film & Musik nachhaltig. Auch hier müßte HK Gruber eigentlich eine Ehrenmedaille (Verdienste um die Musik) für sein Engagement und den Einsatz für dermaßen vergessener Musik zuerkannt werden.
 
Überwältigend: Dmitri Schostakowitsch

Mit der ungeheuerlichen Suite Nr. 5 von Dmitri Schostakowitsch aus dem Ballett „Der Bolzen“ (1931) endete das offizielle Programm. Schostakowitschs ballettöser Geniestreich wurde selbstredend auch kurz nach der Uraufführung verboten. Diese Schöpfung des jungen russischen Komponisten ist realiter geeignet, durch akustische Erschütterung ein Theater in Schutt und Asche zu verwandeln; die richtige Lautstärke von praktischen "forte fortissimo" + ein weiteres f fegt im wahrsten Sinne des Wortes das Dach von jeder Philharmonie. Die Lautstärke des Mahlerorchesters, mit mannigfachem Schlagwerk ergänzt, ist trommelfell-erschütternd. Der Rhythmus stellenweise Herzschlag-provozierend -  dagegen ist „Siegfried Trauermarsch“ (Wagner) ein Lullaby. Die WDR Musiker spielten so teuflisch oder sollte man besser sagen himmlisch gut, daß Dirigent Gruber sich fast bei allen persönlich bedankte.
 
Mit diversen Zugaben endete das Konzert nach gut 3 Stunden. Was für ein Abend! Was für ein musikalischer Einstieg ins Neue Jahr 2009. Anspruchsvoller und unterhaltsamer (Dinge die sich auf dem Konzertpodium häufig gegenseitig ausschließen) hat man selten einen Abend erlebt. So sei im Nachhinein auch noch einmal dem demissionierten Intendanten Michael Kaufmann für diese tolle und verantwortungsvoll mutige Programmauswahl und abermals HK Gruber gedankt.
 
 
"Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?"
Neujahrskonzert mit dem WDR Sinfonieorchester Köln & HK Gruber
Ute Gfrerer, Sopran
Berlin Comedian Harmonists
WDR Sinfonieorchester Köln
HK Gruber, Chansonnier und Dirigent

Programm:
Kurt Weill - Die sieben Todsünden - Ballett mit Gesang nach Bertolt Brecht - (konzertante Aufführung)

Hanns Eisler - Suite Nr. 3 für Orchester aus der Musik zum Film "Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?" von Slatan Dudow, op. 26

Comedian Harmonists - "Mein lieber Schatz, bist Du aus Spanien?", "Veronika, der Lenz ist da", "Liebling, mein Herz lässt Dich grüßen", "Wochenend und Sonnenschein"

Dmitri Schostakowitsch - Suite Nr. 5 aus dem Ballett „Der Bolzen“ (1931)

Redaktion: Frank Becker