Der Dauerkarneval der Kunstöffentlichkeit oder: Der Tod der Urteilskraft

Eine Polemik

von Andreas Steffens

Foto © Frank Becker
„Spaß an der Freud“

Der Dauerkarneval der Kunstöffentlichkeit
oder
Der Tod der Urteilskraft
 
 
In seinen unter dem Titel >Die Kunst, Unterschiede zu machen< vor einigen Jahren veröffentlichten Erzählreflexionen hat Alexander Kluge die Untersuchung, wie es mit unserem Unterscheidungsvermögen bestellt sei, zum wichtigsten Posten einer Eröffnungsbilanz des 21. Jahrhunderts erklärt.
Wie wichtig diese Untersuchung tatsächlich ist,  belegen öffentliche Äußerungen von der Art einer Notiz, die dieser Tage in einer westdeutschen Wochenzeitung zu lesen war: Zu einer Vernissage mit der Künstlerin XY lädt Z. Die Künstlerin malt, weil es ihr Freude macht und etwas Sichtbares entsteht. Aus dem Spiel mit der Farbe entwickelt sie Formen und Kontraste, wobei sie bei der Motivwahl sehr offen ist. Die Ausstellung ist bis zum X.X. zu sehen.
Wörtlich so.

Wer wollte da kein Künstler sein. ‚Spaß an der Freud’ sucht doch schließlich jeder, und was spräche auch dagegen? Wenig, außer, gelegentlich, ein nur schwer erträglicher Überernst in der Selbstinszenierung mancher Kunstmarktproduzenten, als gäbe es nichts Wichtigeres als die Person hinter einem ‚Werk’.
Ich fürchte, diese Ankündigung war ernst gemeint. Und keine besonders bösartige Erfindung eines kulturnostalgischen Kabarettisten, der es nicht lassen kann, ihren Spaßfaktor nicht für das Wichtigste an der Kunst zu halten.
Bei solchen Gelegenheiten bedauert man, kein Zyniker zu sein, und wenn man nicht sehr Acht gibt, werden sie einen am Ende dazu machen. Meinem ersten Impuls gab ich dann doch nicht nach, und schaute mir das versprochene Spiel der Freude nicht an, so verlockend war die offene Motivwahl für Formen und Kontraste dann auch wieder nicht.

Man verstehe mich nicht falsch. Mir liegt nichts daran, irgendwen bloßzustellen. Die so angepriesene Kunst kenne ich nicht, nicht ausgeschlossen, daß es sich tatsächlich um Kunst handelt. (Wenngleich das eher unwahrscheinlich ist, vorausgesetzt, auch hier wurde die verbreitete journalistische Praxis geübt, eine Künstlerselbstaussage eng am Wortlaut referiert wiederzugeben; in welchem Fall es sich nicht um Kunst handeln kann, über die niemand, der sich auf sie versteht, sich je so äußern würde.)
Was immer da zu sehen sein mag, daß es der Öffentlichkeit aber so dargeboten wird, ist ein Symptom. Ein Symptom jener Hemmungslosigkeit, mit der gleichgültiger Unverstand sich heute ungestraft mit kritischer Geste über Kunst hermachen kann. Daß eine Redaktion so etwas druckt, am Ende gar selbst formuliert, bezeichnet einen Tiefststand öffentlicher Wahrnehmung von Kultur. Auch dann, gerade dann, wenn es dem Zynismus eines resignierten Redakteurs entsprungen sein sollte, auch das ist nicht ausgeschlossen, der auch dem letzten Dilettantismus noch freundlich zu Diensten sein und Publikum zutreiben soll.

Derlei unterbietet noch jenen Phrasenmüll der Inseratensprache, den Hans Platschek, der bedeutendste kunstkritische Polemiker unserer Zeit, schon vor einer Generation am öffentlichen Bereden der Kunst zu geißeln fand. Es bezeichnet einen absoluten Tiefpunkt einer Öffentlichkeit, die mit bedenkenloser Selbstverständlichkeit als ‚kritisch’ auftritt, ohne sich ein begründetes Urteil noch zu bilden. ‚Kritik’ aber stammt sprachgeschichtlich aus jener ‚Krise’, die in der frühen Medizin den Moment bezeichnete, in dem sich entscheidet, ob eine Krankheit überwunden werden kann, oder der von ihr Betroffene ihr erliegen wird. Kritik ist Entscheidung über Wert und Unwert, und Darlegung, welcher Art ein festgestellter Wert ist.
Diesem öffentlichen Unvermögen, das nichts anderes ist als Mißachtung, sind die wirklichen Produzenten von Kunst ebenso ausgesetzt, wie ihre anmaßenden Dilettanten. Das ist so bedenklich, weil es den Verlust des Allerwichtigsten anzeigt, das Grundlage jeder Kunstentstehung ebenso wie ihrer angemessenen Auffassung ist: Unterscheidungsvermögen.
Für weniges ist >Die Kunst, Unterschiede zu machen<, so wichtig wie für den Umgang mit Kunst. Sie beruht auf Kenntnissen.

Es ist an der Zeit, diese für den öffentlichen Umgang mit Kunst ebenso rigide einzufordern, wie dies in der Sportberichterstattung seit langem so selbstverständlich ist, daß ein Versprecher vor laufender Kamera einst eine der besten deutschen Journalistinnen den Posten einer Sportmoderatorin kostete.
Noch aber ist der Unverstand gnadenlos.


© Andreas Steffens, Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009