Die Wiederentdeckung der Langsamkeit

Eine Betrachtung über die Geschwindigkeit beim Reisen

von Frank Becker

Foto © Jürgen Kasten
Die Wiederentdeckung der Langsamkeit

Eine Betrachtung
über die Geschwindigkeit beim Reisen

Denken sie, liebe Leser, eigentlich manchmal über die Entfernungen nach, die sie auf Reisen zurück legen und über die wenige Zeit, in der man heutzutage scheinbar ganz selbstverständlich doch erhebliche Strecken überwindet? Mir kam das neulich in den Sinn, als ich morgens um 9 Uhr zu Hause den Bus bestieg, zum Bahnhof fuhr, mit einmal Umsteigen die S-Bahn zum Flughafen nahm, nach München flog, dort in ein Auto stieg und bereits um 15 Uhr mit Seeblick bei einem „Verlängerten“ am Kaffeetisch meines Lieblings-Hotels am Wolfgangsee saß. Sechs Stunden. In diesen sechs Stunden könnte man heute mit dem Flugzeug Meere und Kontinente überqueren, in der Karibik, im fernen Afrika oder im tiefen Rußland ankommen.

Ein paar Tage später zurück zu Hause forderte bei einem Blick in den Bücherschrank Goethes „Italienische Reise“ Aufmerksamkeit. In der Nacht auf den 3. September 1786 hatte sich der Geheime Rat noch vor der Dämmerung auf den Weg gemacht, um der leidigen Affäre mit Frau von Stein zu entfliehen: „Früh drei Uhr stahl ich mich aus Carlsbad, weil man mich sonst nicht fortgelassen hatte...“. hält er tags darauf in Regensburg in seinen Aufzeichnungen fest. Einunddreißig Stunden brauchte er mit der Kutsche ohne Aufenthalt allein bis Regensburg. In rasender Fahrt ging es weiter über München, Mittenwald, Innsbruck, Bozen bis Verona, wo er am 14. September eintraf. Zwölf Tage.

Am 9. Dezember 1801 schulterte in Grimma der Verlags-Korrektor Johann Gottfried Seume seinen Tornister. Sein lockendes Ziel war Syrakus auf Sizilien, das er, wie zuvor schon Paris, zu Fuß zu erreichen trachtete. Anfängliche Reisegefährten verließen ihn bald. Die 800 sächsischen Meilen (á 7,5 km) seiner Reise legte er dennoch unbeirrt in 250 Tagen zurück, Schiffspassagen eingeschlossen. Sein 1803 veröffentlichtes Buch „Mein Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“ ist ein Klassiker worden. "Mein größter Genuß waren überall die Alpenquellen, vor denen ich selten vorbei ging ohne zu ruhen und zu trinken, wenn auch beides nicht eben nötig war, und in die Schluchten um mich her zu blicken", notiert Seume zufrieden und bescheiden unterwegs.

Genau 100 Jahre später unternimmt Otto Julius Bierbaum „Eine empfindsame Reise im Automobil“, die ihn und seine Frau mit einem 8 PS starken „Adler“ in 21 Tagen von Berlin über Prag nach Wien bringt. Zehn weitere Wochen lang setzen sie ihre Reise über die Alpen und durch Norditalien fort. Der Wuppertaler Reisepionier Dr. Hubert Tigges schließlich veranschlagte 1951 für eine Busfahrt nach Italien, bei der unterwegs bei Übernachtungen gezeltet und von den Reisenden gemeinsam selbst gekocht wurde, immerhin noch drei bis vier Tage.

Man hatte, man nahm sich Zeit. Man schaute die Orte an, die man berührte, man nahm Augen-Blicke und Eindrücke mit und man machte den Weg zum Teil des Erlebens der Reise. Man reiste mit dem Herzen. Wir leben sehr schnell heute, zu schnell, glaube ich. Wir sollten mal aufs Tempo schauen und die Langsamkeit wiederentdecken.