Muttertag (1)

von Birgit Bayer

Birgit Bayer
Muttertag (1)
 
 
„Marcia singt!“ Man strömt zusammen, um sie zu hören, um ihr zu applaudieren, um dieses Fest als Geburtstagsfeier ihrer Mutter zu würdigen. Denn Marcia singt zu Ehren ihrer Mutter Esther an ihrem Geburtstag, der gleichzeitig auch noch Muttertag ist.
„Hier riecht es nach Flieder,“ sagt Tutta und schnüffelt. Gerade hat sie ihre älteste Schwester Esther begrüßt und ihr einen Briefumschlag in die Hand gedrückt. „Flieder?“ fragt Esther. „Nein, das ist kein Flieder, das ist Holunder. Das weiß ich genau.“ Sie hält den Umschlag ungeöffnet in der Hand und sieht ihre Schwester an. „Erinnerst du  dich nicht, damals in Werda, da hat es auch immer so gerochen.“
„Weiß ich nicht mehr,“ sagt Tutta ungehalten, „ da war ich wahrscheinlich schon nicht mehr da,“ und schaut auf den Umschlag. Esther will ihn gerade auf den Tisch legen, auf dem schon mehrere ungeöffnete Geschenke liegen. „Willst du nicht reingucken?“
„Nicht jetzt....“ zögert Esther und schaut auf ihre Tochter, die startbereit bei der Band auf der Bühne steht. „Na, es lohnt sich aber,“ sagt Tutta beleidigt. Esther schickt ihr einen Blick, kneift die Lippen zusammen, sagt: „Na, ok.“ Sie reißt den Umschlag auf, Tutta schaut gespannt.
„Oh,“ sagt Esther betroffen und blättert in den 50-Euro Scheinen.
„Na, ist doch schön,oder“ ? sagt Tutta herausfordernd. „Ja-a,“ erwidert Esther gedehnt. „Aber soviel........“ Sie sieht nachdenklich aus.
Tutta ist freudig erregt. „Für einen Baum,“ sagt sie. Da kannst du dir einen schönen Baum für die Terrasse kaufen.“ Sie lacht erfreut. „Das findest du doch gut, oder, einen Baum für die Terrasse.“ Tuttas Lächeln wird immer breiter. Sie bewegt sich unruhig vor- und rückwärts auf der Stelle.
„Wieviel ist es denn?“ fragt Nele, die Jüngste, die rauchend auf der Bierbank sitzt.
„500 Euro,“ tönt Tutta stolz. „Kriegst du aber nicht jedes Jahr,“ schäkert sie mit entzücktem Lachen. „Nur weil es ein runder Geburtstag ist. 70 wird man ja nicht alle Tage. Und man weiß ja nie, ob es der letzte Geburtstag ist.“ Sie schaut sich um und lacht glücklich in die Runde. „Ist bestimmt dein Hauptgeschenk heute.“
„Na toll,“ sagt Nele. „Das hast du ja mal wieder fein hingekriegt. Da kann ich ja gleich einpacken.“
Tutta schaut sie nicht mal an.
„Na und,“ erwidert sie schnippisch. „kann ich doch machen.“
 
Esther kann nicht antworten, denn Marcia hat mit ihrem Vortrag begonnen. Ihre Stimme ist flach und tonlos, wie die der meisten Menschen ohne Stimmausbildung, wenn sie unvermutet ein Mikrophon vor der Nase haben. Der Frontmann der Band unterstützt sie behutsam, indem er ihre Stimme leise mit seiner unterlegt. Bei den Einsätzen singt er die ersten Takte etwas kräftiger mit, bis er sie auf den richtigen Weg gebracht hat.
Marcia freut sich an ihrem Gesang, man merkt, welchen Spaß ihr das macht. Sie hält das Mikro wie ein Profi, bewegt ihren Oberkörper nach vorn, und schaut ihre Zuschauer an, um einige Songzeilen eindringlicher wirken zu lassen. Dann schwingt sie sich wieder zurück, rockt im Takt der Musik, schaut die Bandmitglieder an, lächelt - ganz wie man das von Popsängerinnen kennt. Sie sieht hübsch aus da oben.
„Toll. Sie sollte wirklich Gesangsstunden nehmen, “ sagt Tutta, applaudiert vehement in der Pause nach dem ersten Lied und schaut Doris an. „Findest du nicht auch?“ Doris stockt und neigt den Kopf. Sie ist erstaunt über diese offensichtliche Fehleinschätzung, mag aber nicht widersprechen. Sie klatscht weiter, schaut von Tutta weg, zu Marcia auf die Bühne. Aus den Augenwinkeln sieht sie, wie Tutta heftig auf Doris´ sparsame Bewegung reagiert. „Doch,“ stößt Tutta aufgebracht hervor. „Auf jeden Fall sollte sie ihre Stimme weiter ausbilden lassen, so begabt wie sie ist.“
Begeistert klatscht sie in die Hände, verstärkt demonstrativ ihre Bewunderung, indem sie „Zugabe, Zugabe“ ruft. Mit auffordernden Blicken und hoch erhobenen Klatschhänden versucht sie, die anderen Partygäste auf ihre Seite zu bringen. Bereitwillig fallen ein paar Onkel und Tanten ein in ihren Ruf. Auch Doris rührt noch einmal die Hände. Mit rauher Stimme sagt Marcia von der Bühne herunter, daß sie noch ein Lied von Stevie Wonder singen wird. Tutta lächelt geschmeichelt. Aber sie nimmt es mit ihrem bescheidenen Lächeln zurück. Dennoch wirft sie einen prüfenden Blick auf die Umstehenden. Wissen die, daß sie die Zugabe nur ihr zu verdanken haben?
Sie schaut sich beifällig unter den Anwesenden um. Sie fühlt sich umringt, das ist gut so. Die einzelnen Gesichter kann sie nicht erkennen, weil sie abgelenkt ist. Ist aber auch nicht so wichtig. Ihre Gedanken spielen schon mit den Worten, die sie nachher zu Marcias Lob aussprechen wird. Und wie die anderen sie dafür bewundern werden. Ihren Kunstverstand. Und ihr neidlose Großzügigkeit. Und wie sehr Marcia sich freuen wird, von ihrer Tante solche Auszeichnung ihrer Fähigkeit zu bekommen. Auf jeden Fall wird Tutta sich mit all ihrer Kraft dafür einsetzen, daß Marcia Gesangsstunden bekommt. Sie lächelt zerstreut vor sich hin. Ihre Augen sehen nach innen. Sie betrachten sie selbst, wie sie gleich dort stehen und ihre Lobeshymne schwingen wird.
 
Marcia hat mit ihrem zweiten Lied begonnen. Tutta schaut zu ihr hoch, stößt einen kleinen lachenden Schnaufer durch die Nase. Der kommt immer von selbst, sie weiß auch nicht woher. Vielleicht ist sie ein wenig geniert. Sie schaut auf Marcias rhythmische Bewegungen und in ihrem Bauch löst sich ein kleines Wohlgefühl, das langsam wächst. Wieder entringt sich ihr dieses  merkwürdig beschämte Lachen. Aber sie registriert es jetzt kaum noch. Wichtig ist dieses Gefühl, das sich nun in ihr ausbreitet. Tutta spürt, wie der Blick auf die Bühne sie beschwingt. Sie wird mitgerissen. Ein Gefühl der Freiheit bemächtigt sich ihrer. Sie fühlt sich, als habe sie Flügel. Auf die Bühne, auf die Bühne.
Inbrünstig vereint mit Marcia singt sie den Refrain mit, bewegt sich auch ein wenig so wie Marcia.
Als jemand im Takt der Musik zu klatschen beginnt, fällt sie ein, wie erlöst. Sie klatscht am lautesten und wildesten von allen. Bewegt sich auch geschmeidig in den Hüften, fast könnte man sagen: „Guck mal, wie toll Tutta tanzt.“ Da ist wieder ihr kleines stoßendes Lachen, scheinbar verlegen. Sie schaut, wie die anderen schauen, nagt ein wenig an der lächelnden Unterlippe.
„ Sieh doch nur, dieses Temperament und diese Begeisterung“, hört Tutta die Umstehenden denken. Wunderbar. Tuttas Augen sehen die Worte innen, in sich selbst. Sie schwimmt in Harmonie mit all den anderen, die ebenso hingerissen sind wie Tutta. Denkt sie. Wie im Rausch klatscht und bewegt sie sich. Das, was Marcia da auf der Bühne macht, ist nichts gegen Tuttas Ekstase. Tutta ist die reine Hingabe.
Und „bravoooo, bravoooo, super,“ ruft sie, schon beim letzten Akkord der Gitarren. Ihre Hände schmerzen vom heftigen Aufeinanderschlagen. Es ist immer so traurig, wenn es aufhört, denkt Tutta und lächelt ein kleines verlegenes Lächeln in die Runde. Sie fühlt sich immer noch emporgetragen, wie auf einer Wolke. Aber auch ein bißchen allein. Mit dem Rest ihres großen Gefühls stößt sie noch einmal ein kleines Lachen aus und schaut auf die Gesichter rings um sie her.
Langsam erkennt sie das ihrer Schwester Esther, ihres Mannes Detlef, ihrer Schwester Nele, deren Tochter Julia, andere. Ihr fällt auf, daß sie alle ganz normal aussehen. Vielleicht haben sie nicht gemerkt, von welch wunderbarer Vorstellung sie alle gerade Zeuge werden durften? Dann muß man es ihnen sagen. „Ist es nicht toll, supertoll,“ wendet sie sich in die Runde, und redet sich in Glut über Marcias Brillanz. Sie legt sich mächtig ins Zeug für Marcia. So hält sich ihr Rausch noch ein wenig. Die anderen hören ihrem Pathos freundlich zu, sagen aber nichts.
Esther, Marcias Mutter, lächelt ihre Schwester Tutta ein wenig gönnerhaft an. Tutta bedrängt sie, in ihren Lobgesang einzustimmen. Esther hält sich zurück. Obwohl ich Marcias Mutter bin, kann ich doch deine Meinung nicht so ganz teilen, sagt ihr Gesichtsausdruck. Sie will ihre Schwester natürlich nicht verletzten. Das demonstriert sie ganz deutlich. Sie schaut unter sich, meidet Tuttas Blick. Tutta wird immer heftiger. Esther zögert.
Schließlich ist Esther die Älteste der Familie. Sie ist die Einzige, die Abitur gemacht und studiert hat. Sie hat die Verantwortung hier, allen möglichst gerecht zu werden. Das ist ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Hat ihre Mutter ihr schon immer gesagt.
 Unter den immer heftiger und drängenderen Beschwörungen Tuttas entsinnt sie sich schließlich ihrer Aufgabe.  Sie läßt ihre Augen kurz nach innen schweifen, überprüft die Vorstellung noch einmal kritisch in aller Kürze. Sie kann das. Sie ist die Intelligenteste. Dann stellt sie ihr Lächeln ab, macht ein entschlossenes Gesicht und bekräftigt mit fester Stimme und klarem Blick: „Ja, das war wirklich ein schöner Vortrag. Und es war ein sehr schönes Muttertagsgeschenk.“
Esther weiß, was sie sich und ihrer Tochter schuldig ist. Aber sie zeigt auch kritische Distanz. Das hat sie während des ganzen Vortrags ihrer Tochter getan. Sie wußte sehr wohl, daß man sie beobachtete. Davon jedenfalls geht sie aus. Also hat sie kein Auge von ihrer Tochter gelassen. Sie hat sich nicht einmal gerührt auf ihrem Platz. Ihr Gesicht war immer nach oben zur Bühne, Marcia zugewandt. Die ganze Zeit über hat sie ein kleines Lächeln auf dem Gesicht gehabt. So hat sie sich den anderen Gästen zwar erfreut, aber durchaus distanziert gezeigt. Nicht etwa als Muttertier, dem jegliche objektive Beurteilung abgeht. Esther hat sich unter Kontrolle. Sie kann zufrieden mit sich sein. Obwohl sie sich auch jetzt wieder ein bißchen leer fühlt. Aber das wischt sie beiseite mit einem ganz, ganz offenen Blick und sehr klar und deutlich akzentuiertem „danke auch schön“ für die Komplimente über die Tochter. Sie zeigt, daß sie sich uneingeschränkt den Blicken ihrer Gäste stellt. Egal, ob Marcias Darbietung nun gut war oder eben nur soso.  Esther übernimmt Verantwortung. Sie stellt sich auf Seite ihrer Tochter. Das ist schließlich ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Esther ist sich sicher, daß die Gäste sie dafür bewundern. Das macht sie froh, und  ihre Sprache wird noch wohlartikulierter. Nicht, daß sie viel reden würde. Sie ersetzt viele Worte durch ein ganz offenes, herzliches Lächeln. Oft ist es auch nur ein bekräftigendes „ja,ja, völlig richtig, völlig richtig. Jaaaa....“ Aber sie bemüht sich, ihre ganze Überzeugung da hinein zu legen. Sie dehnt ihr Stimmvolumen in Höhe und Breite aus. Nicht genug damit, sie nickt auch kräftig mit dem Kopf, läßt ihre Augen Zustimmung signalisieren. Ihre Gesprächspartner können deutlich sehen, wie sehr sie einverstanden ist.
Wenn sie eine Frage stellt, färbt sich ihre Stimme mit kluger Intelligenz. Dabei nimmt sie sich etwas zurück. Sie rutscht auf ihrem Stuhl nach hinten, bis sie die Lehne an ihrem Rücken spürt, legt den Kopf eine Winzigkeit auf die Seite und schleudert dann ihre Frage in einem einzigen schnellen Satz nach vorne. Sie ist stolz darauf, sie gut formuliert zu haben und horcht ihr noch ein wenig hinterher.
Manchmal fällt ihr auf, daß sie deshalb nicht die gesamte Antwort mitbekommt. Aber, findet sie, das ist nicht so tragisch. Das Wesentliche kann sie sich schon denken. Sie schaut dann, in tiefe Reflexion versunken, nach unten, zeigt, wie sehr sie das zu schätzen weiß, was sie da gerade gehört hat, ist garnicht bange, ihr schweigendes Nachdenken auszudehnen. Dann schaut sie jäh nach oben, ihren Gesprächspartner an. Ihre Gesichtszüge sind hart und energisch. Sie hat verstanden. Man sieht es ihr an. In kurzem Stakkato stößt sie hervor: „Ja, natürlich. Selbstverständlich“. Im Angesicht ihres Gesprächspartners überblickt sie noch einmal mit leicht gerunzelter Stirn  den ganzen Komplex, den Frage und Antwort berührt haben. Und hier erlaubt sie sich zuweilen ein kleines, entschuldigendes Lächeln, übt Selbstkritik. „Da hätte ich eigentlich auch selbst drauf kommen können.“ Gegensätzliche Beteuerungen ihres Partners lehnt sie strikt ab, bis beide einen Modus gefunden haben, in Lachen auszubrechen, herzlich. Sie hat sich als die verständige, selbstkritische Persönlichkeit bewiesen, die sie ist.  Nun kann es weitergehen. Die Frage nach der seltsamen Leere, die sie manchmal empfindet, stellt sie sich immer seltener. Schließlich wird sie heute 70. Da ist kein Platz mehr für solch überflüssige Fragen.



© Birgit Bayer - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009

Lesen Sie bis zum Muttertag am 10. Mai jeweils sonntags die
weiteren Folgen von Birgit Bayers Erzählung

Redaktion: Frank Becker