Gedankensenke

Das ausgeschlagene Mittagessen

von Andreas Steffens

Foto © Zbigniew Pluszynski

Gedankensenke

Eine Kolumne von Andreas Steffens

senke eine ausgehöhlte form, andern dingen darin ihre gehörige gestalt zu geben’ Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch


Das ausgeschlagene Mittagessen




War man in St. Petersburg, Moskau, Warschau, Sofia oder Bukarest geboren, ging man zur obligatorischen Bildungsreise mit anschließendem Studium nach Berlin oder Paris.

Zum Mythos Berlins als der Kulturhauptstadt Mitteleuropas zur vorletzten Jahrhundertwende gehört die Fama vom bildungshungrigen osteuropäischen Aristokraten- oder Bürgersohn, der, kaum angekommen, noch bevor er sich auf Zimmersuche macht, ins Kolleg Georg Simmels eilt, dem ‘tout Berlin’ zu Füßen saß und andächtig gebannt den dialektischen Subtilitäten lauschte, die der schmächtige Mann, auf und ab gehend, druckreif sprechend aus einem nervös dauererregten Hirn  entspann.
Nicht so Boris Pasternak.

„Berlin kam mir wie eine Stadt von Buben vor“, wird er sich Jahrzehnte später erinnern, „denen man am Tage zuvor Seitengewehre und Helme, Stöcke und Pfeifen, richtige Fahrräder und Anzüge geschenkt hatte. Ich traf sie bei ihrem ersten Ausgang; sie hatten sich noch nicht an die Veränderung gewöhnt, und jeder brüstete sich mit dem, was er gestern bekommen hatte. In einer der vornehmsten Straßen sah ich Natorps >Handbuch der Logik< im Fenster einer Buchhandlung. Ich ging hinein und kaufte das Buch mit dem Gefühl, daß ich den Verfasser morgen in Person sehen würde“ (Pasternak, Geleitbrief, 44).

Denn sein Ziel ist Marburg. Das Zentrum des Neukantianismus, der die Echternacher Springprozession in die Philosophie eingeführt hatte, indem er beschloß, zwei Schritte zurück zu Kant zu tun, um einen voran zu kommen. „In den zwei Jahren vor meiner Reise hatte ich das Wort ‘Marburg’ beständig auf den Lippen“ (a.a.O., 50). Denn er kannte ihn schon genau, den auf Selbststilisierung beruhenden Mythos der ‘Marburger Schule’, und in der Schilderung des älteren Mannes schwingt noch die Begeisterung seiner Jugend mit.
„Die Marburger Schule, das Werk des genialen Cohen und von seinem Vorgänger Friedrich Albert Lange vorbereitet, der bei uns durch seine ‘Geschichte des Materialismus’ bekannt wurde, zog mich wegen zweier Besonderheiten an. Erstens war sie unabhängig, sie riß alles bis auf die Grundfesten nieder und baute auf einem freien, weiten Platz auf. (...). Wenn die landläufige Philosophie davon handelt, wie dieser oder jener Schriftsteller denkt, die landläufige Psychologie, wie der Durchschnittsmensch denkt, wenn die formale Logik lehrt, wie man im Bäckerladen denken muß, damit man richtig herausbekommt, dann interessierte sich die Marburger Schule dafür, wie die Wissenschaft in den fünfundzwanzig Jahrhunderten ihrer ununterbrochenen Autorschaft an dem brennenden Anfang und am Ende der Entdeckungen der Welt dachte. In einer solchen, gleichsam von der Geschichte selbst autorisierten Betrachtungsweise wurde die Philosophie wieder jung und weise, so daß man sie kaum wiedererkannte, und verwandelte sich aus einer problematischen Disziplin in die uralte Disziplin der Probleme, die sie eigentlich sein soll“. Daß die Marburger dabei großen Respekt vor eben dieser Geschichte zeigten, war der zweite Grund für den jungen Russen, sie zu verehren und sich für sie als Lehrer zu entscheiden. „In Marburg kannte man die Geschichte durch und durch und wurde niemals müde, einen Schatz nach dem anderen aus den Archiven der italienischen Renaissance, des französischen und schottischen Realismus oder anderer wenig erforschter Schulen zutage zu fördern“ (Pasternak, Geleitbrief, 46-48).
Er richtet sich ein, und beginnt sein Studium. Es läuft gut für ihn, eifrig wie er ist. „Meine Referate waren gut und fanden Beifall. Man sagte mir, ich solle meine Gedanken ausführlicher entwickeln und sie am Ende des Semesters noch einmal vortragen. Ich ging begeistert auf diesen Vorschlag ein und machte mich mit doppeltem Fleiß an die Arbeit“. Aber irgend etwas stimmt nicht.

„Gerade an diesem Übereifer hätte ein erfahrener Beobachter erkannt, daß nie ein Gelehrter aus mir werden könne. Ich erlebte die Wissenschaft viel stärker, als es der Gegenstand erforderte. In mir wurzelte eine Art vegetativen Denkens. Sein Hauptmerkmal war, daß irgendein Nebengedanke sich in meiner Interpretation ins Maßlose entfaltete und Nahrung und Pflege verlangte, und wenn ich mich unter seinem Einfluß den Büchern zuwandte, tat ich das nur, um Zitate für ihn zu sammeln, und nicht aus selbstlosem Interesse an der Wissenschaft“. Es ist von großer Meisterschaft, wie der sich erinnernde Schriftsteller seine Lage zu jener Zeit zu schildern und den aufmerksamen Leser auf die richtige Spur zu setzen weiß, ohne ihm einfach in Kenntnis dessen, was danach gekommen ist, in plumper Direktheit zu sagen, was sich da abspielte, und das, was er weiß, doch so merken zu lassen, daß der Leser es ebenfalls bemerken kann: der junge Mann ist dabei, etwas anderes zu werden, als das, wovon er überzeugt war. „Obgleich ich meine Arbeit mit Hilfe von Logik, Phantasie, Papier und Tinte zuwege brachte, liebte ich sie hauptsächlich deswegen, weil sie bei der Niederschrift von einem immer dichter werdenden Ornament aus Zitaten und Vergleichen übersponnen wurde“ (Pasternak, Begleitbrief, 77).
Damit eintreten konnte, was sich da vorbereitete, bedurfte es äußerer Einwirkung. Sie tritt ein in Gestalt zweier Schwestern auf der Durchreise, die er noch aus Moskau kannte. Die älteste aller Geschichten beginnt, und nimmt den ungünstigsten aller Verläufe. Als er sich endlich ein Herz faßt, und von der älteren der beiden, um die er wirbt, unmittelbar vor deren bevorstehender Abreise eine Entscheidung fordert, findet er sich brüsk abgewiesen. In seiner Verwirrung versäumt er, den Zug, in den er ihr gefolgt ist, rechtzeitig zu verlassen und findet sich anderntags in Berlin wieder. Nach einer Geisternacht kehrt er abgerissen nach Marburg zurück.

Nichts ist mehr, wie es so kurz zuvor noch gewesen war. „Bei meiner Ankunft erkannte ich Marburg nicht wieder. Der Berg schien gewachsen und schmäler geworden, die Stadt war zusammengeschrumpft und schwarz“. Seine Wirtin glaubt ihm von seiner wirren Erzählung kein Wort; kopfschüttelnd händigt sie ihm seine Post aus, einen Brief von seiner Cousine aus Moskau, die ihm mitteilt, für einige Tage in Frankfurt zu sein, und eine Postkarte, „nur zu einem Drittel mit einer unpersönlich korrekten Schrift bedeckt. Sie war von einer Hand unterzeichnet, die ich von den Unterschriften auf den Anschlägen nur allzu gut kannte - von der Hand Cohens. Es war eine Einladung zum Mittagessen am kommenden Sonntag“ (Pasternak, Geleitbrief, 79). Eine Auszeichnung, nein: die Auszeichnung, von der jeder, der es in der Philosophie ernst meinte, träumte, und die kaum einem zuteil wurde. Nach Sitte und Usus ein Eintrittsbillet in die akademische Karriere. Er war als Schüler mit Aussichten anerkannt.
Boris Pasternak wird an diesem Mittagessen nicht teilnehmen. Er wird zu seiner Cousine nach Frankfurt fahren.

„Das war das Ende! Das Ende der Philosophie, das heißt das Ende jeglicher Pläne, die ich an sie geknüpft hatte“. Aber das ist nun bedeutungslos. Er verliert etwas, das ihm nichts mehr nutzen kann. „Marburgs Wert lag in seiner philosophischen Schule. Ich bedurfte ihrer nicht mehr“.
Das verstört ihn nicht. Denn „nun entdeckte ich eine andere Schule. Da ist die Psychologie des Schöpferischen, da sind die Probleme der Poetik. Doch in der ganzen Kunst wird gerade ihr Entstehen unmittelbarer erlebt als alles andere, und man braucht nicht lange herumzuraten, wie sie entsteht.

Wir hören auf, die Wirklichkeit zu erkennen. Sie erscheint uns in einer neuen Kategorie. Diese Kategorie kommt uns wie ein Zustand vor, der der Wirklichkeit und nicht uns eigen ist. Außer diesem Zustand hat alles auf der Welt einen Namen. Namenlos und neu ist nur er. Wir versuchen, ihn zu benennen. Das Ergebnis ist die Kunst“ (Pasternak, Geleitbrief, 81 f.).

Pasternak hatte die Philosophie gesucht und die Kunst gefunden.

Sie war das ihm Gemäßere. Er verdankte sie dem Einbruch der Erotik in sein Leben, die ihn darüber belehrte, daß es mit dem Denken des Lebens nicht getan ist, wenn man nicht auch lebt. Daß das Scheitern dazu gehört, ist die Voraussetzung, etwas daraus machen zu können. Er wird aus dem Motiv der noch in ihrer Erfüllung  scheiternden Liebe ein Stück Weltliteratur machen.
Die Marburger Schule ist lange vergessen, dieses Stück Weltliteratur noch nicht ganz, wenn dafür auch weniger das Buch als dessen Verfilmung gesorgt hat.
Hier wurde die Poesie, die Kunst zur Alternative, zum Anderen der Philosophie.
Aber ist es nicht auch möglich, zur Kunst zu gelangen, ohne dazu die Philosophie aufgeben zu müssen, wie Pasternak es so erleichtert in Marburg tat, das er kurz vor dem Ersten Weltkrieg wieder verließ? Vielleicht sogar, sie als Literatur zu betreiben?
Das ist weniger abwegig, als es das im positivistischen 19. Jahrhundert etablierte Verständnis der Philosophie als Wissenschaft erscheinen lassen muß.
Der Philosoph ist die Erfindung eines Literaten. Der Kunst überdrüssig geworden, erfindet der - mag sein: glücklose? - Tragödiendichter Platon eine Figur, der er von nun an alles und ausschließlich in den Mund legt, was er zu sagen hat. Sokrates, der Prototyp des Philosophen, ist die Befreiung eines Dichters aus einer Verlegenheit.

 

Pasternak, Boris, Geleitbrief. Entwurf zu einem Selbstbildnis, Köln-Berlin 1958

 

© Andreas Steffens – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007