Sonntagmorgen XI

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Sonntagmorgen XI
  

Der Tag beginnt fast schweigend. Die gesamte Nachbarschaft scheint noch zu schlafen. So kommt es mir vor, als ich durch das Fenster spähe.
Ich sehe den sattgrünen Rasen vor dem gegenüberliegenden Haus, auf dem Licht und Schatten spielen, und der Wind wiederum spielt mit den Schatten zitternder Zweige. Davor verläuft der gepflasterte Fußweg, durch dessen Pflasterritzen der tapfere Löwenzahn den Kopf zwängt, leuchtend in kraftvollem Goldgelb.
Dann sehe ich auf dem Rasen einen schwarzweißen Vogel. Eine Kindheitserinnerung sagt mir, daß es eine Elster sein könnte. Ich rufe meine Frau, die ich draußen im Flur gehen höre: „Das ist doch eine Elster?“
Natürlich sei es eine Elster, bestätigt sie. Und eine zweite könne nicht weit davon sein, die träten meistens zu zweit auf. Sie behält recht.
Und während die Welt da draußen immer noch beharrlich in der Morgensonne strahlt und schweigt, werde ich für einen Augenblick ruhig und denke: Das hier, dieser Augenblick, das ist Glück. So sieht Glück aus.
 
Später, droben im Wald mit dem vertrauten Laufweg, gesellen sich noch bemooste Baumstümpfe zu meiner stillen Morgengesellschaft, und danach erwartet mich in meiner Stammbäckerei ein dampfender Pott Kaffee auf dem mächtigen Dreieckstisch. Ich vertiefe mich dabei in die Morgenzeitung, bleibe der einzige Kunde. Zwischendurch sehe ich kurz das nachdenkliche Gesicht der kleinen Bäckerin, auf die vielleicht ein einsamer Sonntagnachmittag wartet. Jetzt wartet sie auf Kundschaft, aber noch immer kommt niemand.
 
Wie ist das, wenn man jahrelang so allein ist. Verarmt man da nicht?
 
Ein Mobiltelefon klingelt. Die Bäckerin nimmt es auf, drückt auf Empfang und geht vor die Türe. Da steht sie mit dem Rücken zu mir und schaut beim Zuhören auf die menschenleere, besonnte Straße der Siedlung.
 
Sie hat das Gespräch beendet, kommt herein, das Gesicht von Glücksgefühl überstrahlt: „Es war meine Nichte.“
„Und? Kommt sie wieder zu Besuch?“
 Nein, sagt sie, aber die Nichte habe einen Freund gefunden. Sie war ja jahrelang so allein. „Ist das nicht schön? Wenn sie sich gut verstehen, nicht wahr?“ Ich schaue die Bäckerin  ein wenig erstaunt an. Es scheint, als habe sie selbst ihr Glück gefunden.
 
Aber sie ist einbezogen in anderes Glück, denke ich. Und das Telefon hat sie reich gemacht. Telefone können das. Auch Arme und Einsame können jemand erreichen, mit dem sie sprechen können, und die fremde Stimme bewirkt, daß in einsamen Wohnstuben, hinter verlassenen Parkbänken vor windzerzausten Sträuchern Hoffnungen aufsteigen wie die ersten Strahlen der Morgensonne. Meine Frau schimpft zwar auf die gefährlichen Handys, aber, was wahr ist, muß auch wahr bleiben.
 
 
© Karl Otto Mühl – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker