Placido Domingo - Live und glanzvoll

Carmen, Il Trovadore, Fedora - unter Kleiber, Karajan und Gavazzeni

von Peter Bilsing

© TDK
Placido Domingo Live –
Carmen, Fedora, Il Trovatore
 
Auch:
Exemplarische Interpretationen dreier Jahrhundert-Dirigenten
aus der Wiener Staatsoper und der Mailänder Scala.
 
Seit einigen Wochen gibt es von TDK ein besonderes goldenes DVD-Schatzkästlein mit dem Namen „Opera Exklusive: Placido Domingo – live“. Es beinhaltet für rund 50 Euro drei nicht nur rezeptionsgeschichtlich hochinteressante Live-Opernaufnahmen (für die man beim Einzelkauf sicherlich locker einen dreistelligen Eurobetrag berappen müßte), sondern es sind auch wahre Sammler-Objekte, die in keiner ernsthaften Opernsammlung fehlen sollten - und das liegt nicht nur am großen, titelgebenden Placido Domingo.
 
Es sind drei unvergleichliche Aufnahmen, die man auch unter dem Titel „Exemplarisches dreier Jahrhundertdirigenten“ auflegen könnte, nämlich Herbert von Karajan, Carlos Kleiber und Gianandrea Gavazzeni. Bei letzteren beiden Namen würde ich sogar von „Jahrhundertaufnahmen“, im Sinne wirklich einmaliger Zeitdokumente sprechen. Das bindende Glied dieser sehr gut ausgewählten Edition ist Domingo, dessen sängerische Reifung und Qualität allein im Zeitraum von 1978 (Carmen, Troubadour) bis 1993 (Fedora) erstaunlich ist. Beim wirklich einzigen ganz großen Tenor der letzten 30 Jahre, scheint es wie mit einem guten Rotwein zu sein, er wird anscheinend - und das ist schon verblüffend - von Jahr zu Jahr besser. Der Rotwein gewinnt ohne Dazutun, Placido Domingo arbeitet jedoch kontinuierlich an Stimme und Repertoire-Erweiterung. Das ehrt ihn, das macht ihn sympathisch. Und wenn ich den „alten“ Domingo heute sehe, dann geht es mir, ähnlich wie mit dem Schauspieler Sean Connery, je älter beide werden, desto besser sehen sie aus.
 
1978: Zeffirellis „Carmen“ mit ihren über 500 Mitwirkenden und veritablen acht Pferden war ein
Gourmet-Ereignis für Opernfolkloristen jeden Alters; der Aufwand war so gigantisch, daß man in manchen Szenen glatt den Überblick verlieren würde, wäre da nicht der Meister selber, welcher die Kameraoberaufsicht (Bildregie) inne hatte. Das führt leider dazu, daß der Zuschauer von Nahaufnahmen geradezu erschlagen wird, der Mann liebt halt seine Sangeshelden – schlimmer wird es dann nur noch bei Karajan. Die Bildqualität liegt auf damaligem TV-Niveau und ist natürlich auf heutigen Großbildschirmen nur noch jovial lächelnd als „historisch“ zu bezeichnen; was den Vorteil hat, daß kurzsichtige Opernfreunde ihre Brille ruhig im Etui lassen können. Tonmäßig wurde das LPCM-Stereo erträglich für die DVD rauschbereinigt. Es klingt schon etwas besser als auf der VHS-Kassette. Die großen Sänger (Obraztsova, Buchanan, Domingo und Mazurok) sind qualitativ unantastbar. Daß es zwischen Augenrollen, Zwinkern und Rampentheater noch etwas gibt, nämlich lebendiges Musiktheater, scheint sich zumindest bei Domingo anzudeuten. Und auch die Karajan-Regie ist actionmäßig nicht so ohne; das Aufeinanderprallen der Truppen im Klosterfinale wird zu einem dermaßen realistisch wilden Gehaue und Gesteche, wie man es in manchem Mantel- und Degenfilm selten überzeugender sah…alle Achtung!
 
Aber das alles ist nicht der Grund, warum man diese DVD haben muß; der Grund heißt Carlos Kleiber! Geradezu sensationell war die Tatsache, daß der große Maestro, der nur ganz wenige Auszüge seines großen Wirkens später als Reproduktion auf Massenmedien erlaubte, dieser DVD-Publikation im Jahre 2004, kurz vor seinem Tod - gänzlich unerwartet! - zustimmte. Kleiber war ein Musikwahnsinniger, ein Besessener, der stets und ein Leben lang von dem stringenten Glauben an die perfekte musikalische Interpretation gequält wurde. Ein ständiger Selbstzweifler, der auch nach drei Dutzend Proben mit den besten Musikern dieser Welt noch nicht zufrieden war. Und das ist es tatsächlich, was diese „Carmen“ zum Ereignis macht, eine unerhörte musikalische Ausleuchtung. Fulminante Tempi, die Akkuratesse eines Toscanini wird in blühend glühende Lyrismen gebettet; Solisten spielen auf, als ginge es um ihr Leben. So hatte man „Carmen“ nie vorher gehört! Aber schauen Sie bitte ins Gesicht dieses genialen Meisterdirigenten…selbst die Götter würden seinen Ansprüchen wahrscheinlich nicht genügen können. Bilder einer selbst für geschulte Ohren doch scheinbar absoluten, perfekten Interpretation, die sich einbrennen . Doch Glück und Zufriedenheit sieht anders aus.
 
Karajans hier (ebenfalls von 1978) vorliegender „Trovatore“ wurde von Placido Domingo quasi in
letzter Sekunde gerettet, nachdem der als mimosenhaft bekannte Franco Bonisolli überraschend ausgestiegen war. Da ging es kurzfristig um riesige Summen, Millionenverträge (u.a. auch mit der Europäischen Fernsehunion) drohten zu platzen und die Schallplattenfirmen weinten bitterlich. So war ad hoc Placido Domingo nicht nur Verdis Held, sondern praktisch auch eine Art Lohengrin für die Wiener Staatsoper. Wagners große Lichtgestalt sollte er aber erst Jahrzehnte später singen!
Die Bildqualität liegt auf 78-er TV-Niveau, wie bei „Carmen“; ich rate hier ausnahmsweise einmal die alte Röhren-Fernsehkiste wieder zu aktivieren. Anscheinend ist es immer noch zu schwierig und aufwendig, Magnetaufzeichnungen digital zu restaurieren, wie es bei Filmbildern machbar ist. Allerdings kommt der Ton schon wahlweise in digitalem 5.1 Stereo oder DTS daher – das ist bemerkenswert. Aber hier war der Maestro ja auch Technik-Freak. Wahrscheinlich würden wir ohne den schönen Herbert heuer noch Vinylscheiben hören!? Ich empfehle auf Digital 5.1. einzustellen – DTS klingt etwas abgeschwächt.
„Adapted for TV by Günther Schneider-Siemssen“ ziert den Umschlag, aber nicht den Abend. Vielleicht hätte der große Bühnenbildner die Bildregie lieber den Fachleuten vom ORF alleine überlassen sollen. Gnadenlos zoomt er auf die Gesichter und der Überblick der Totalen geht meistens völlig verloren. Das gefällt vielleicht Autogrammsammlern und Menschen, die in der Oper immer auf dem Stehplatz im fünften Rang heimisch sind, aber für Operngenießer ist diese dauernde Nähe schon sehr, sehr nervig. Manche Visagen sind auch recht unansehnlich in Kußnähe. Darüber hinaus ist die Szene meist recht dunkel, und je mehr man da hereinzoomt, umso gröber wird das Bild bzw. die Auflösung.
Doch bei diesem Karajan-Super-Troubadour geht es um andere Dinge, die den Opernfreund erfreuen und ihren Wohnungsnachbarn ärgern. Verdissimo ist angesagt! Das ganz große Klangereignis. Verstärktes Blech und enorme Streicherglissandi, welche die Monumental-Optik des Bühnenbildes noch zu übertreffen drohen. Karajan geht derart in die Vollen, daß Richard Wagner im Opernhimmel glatt erblassen würde. Das ist einmalig, und solches überleben nur Weltklassesänger, wie Cappucilli, Kabaiwanska, Cossotto, Domingo, Zednik oder van Dam unbeschadet. Weltstars mit Stimmbändern aus Titan. Wie auch immer, es klingt schon mächtig imponierend. Die absolut exemplarische Dokumentation einer Karajan-Interpretation. Ein echtes Sammlerstück für Fans.
 
Das Juwel dieser goldenen Dreierbox ist aber die 1993er Aufnahme von „Fedora“ aus der Mailänder
Scala mit einer sensationellen Mirella Freni (besser geht es nicht!), einem Placido Domingo, der hier ein bis dato unvergleichliches und in diesem Zusammenhang unerhörtes Stimmportrait auf die edlen Bretter bringt, daß die Italiener förmlich ausrasten. Und das alles unter einem der größten Verismo-Dirigenten aller Zeiten, dem damals schon 86-jährigen Maestro Gianandrea Gavazzeni. Was für eine Aufnahme! Was für ein Maestro der Musikgestaltung!
Und was für eine ruhige und sensibel überzeugende Bildregie, welche das Regie-Konzept von Regisseur Lamberto Puggeli - vielleicht sollte man eher von Bilderarrangenment sprechen - zum großen Opernerlebnis, geradezu zum Film-Ereignis schmiedet. Wunderbare szenische Übergänge, lange Kamerafahrten, brillante Einblendungen (häufig des Dirigenten), und eine bestechende szenische Licht- und Schattenarbeit, die auch aufgrund neuerer Kameratechnologie für Live-Opernaufnahmen eine Schärfe erschließt, die dem anlaufenden Digitalzeitalter alle Ehre bereitet. Ein historischer Meilenstein der TV-Aufbereitung einer Opernproduktion.
Das Team um Production Director Enrico Motta leistet Bahnbrechendes. Darüber hinaus glänzt ein technisch perfekter 5.1 Kanal-Ton in bisher nicht gehörter Qualität. Anno domini 1993!
Es gibt es an dieser Aufnahme nichts zu kritisieren, so sollte, so muß ein Zeitdokument aussehen! Da ist alles so schön und mit Liebe zur Musik und zum Detail in Szene gesetzt und von so prachtvoller, musikalischer und bildnerischer Umsetzung, daß dem mitfühlenden Opernliebhaber schon manche Träne ins Auge rückt. Allein diese DVD ist den Kauf der ganzen Box wert. Schöner kann es live in der Scala kaum sein.

Placido Domingo - Live -
 
Plácido Domingo, Mirella Freni, Elena Obraztsova
Regisseur(e): Franco Zeffirelli, Lamberto Puggelli, Herbert von Karajan
Komponist: Umberto Giordano, Georges Bizet, Giuseppe Verdi
Format: 4er DVD-Box-Set
Untertitel: Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch
Bildseitenformat: 4:3 / 16:9 kompatibel
Anzahl Disks: 4
FSK: Ohne Altersbeschränkung
Studio: TDK
Erscheinungstermin: 16. März 2009
Spieldauer: 418 Minuten
 
Il Trovatore (Verdi)
Libretto von Salvatore Cammarano und Leonore Emanuele Bardare
Manrico: Plácido Domingo
Il Comte di Luna: Piero Cappuccilli
Leonora: Raina Kabaivanska
Azucena: Fiorenza Cossotto
Ferrando: José van Dam
Ines: Maria Venuti
Ruiz: Heinz Zednik
Ein Zigeuner: Karl Caslavsky
Ein Bote: Ewald Aichberger
Chor und Orchester der Wiener Staatsoper Leitung: Herbert von Karajan
Bühnen-Regie: Herbert von Karajan
Aufnahme: Live-Mitschnitt in der Wiener Staatsoper "Il Trovatore"
Gesungen in italienischer Sprache.
 
Carmen (Bizet)
Libretto vonHenri Meilhac und Ludovic Halevy
Carmen - Elena Obraztsova
Don José - Placido Domingo
Escamillo - Yuri Mazurok
Micaela - Isobel Buchanan
Frasquita - Cheryl Kanfoush
Marcedes - Axelle Gall
Zuniga - Kurt Rydl
Morales - Hans Heim
Remendado - Heinz Zednik
Dancaire - Paul Wolfrum
Chor und Orchester der Wiener Staatsoper
Leitung: Carlos Kleiber
Regie & Bühnen-Regie: Franco Zeffirelli
Recorded live at the Wiener Staatsoper, 9 December 1978.
 
Fedora (Giordano)
Oper von Umberto Giordano (1867-1948)
Mirella Freni, Adelina Scarabelli, Plácido Domingo, Alessandro Corbelli, Silvia Mazzoni, Monica Minarelli u.a. Orchestra e Coro del Teatro alla Scala Leitung: Gianandrea Gavazzeni Aufnahme 1993 / Scala live

Weitere Informationen unter:
www.arthaus-musik.com