Matera 2009

Ein Reisebericht aus Süditalien

von Joachim Klinger

Matera 2009 - © Joachim Klinger
Matera 2009
 

Wenn man zum zehnten Mal seinen Urlaubsort besucht, erwartet man keine großen Überraschungen mehr. Man möchte Bekanntes, Vertrautes wiedersehen und kleine Veränderungen wohlwollend registrieren. Aber mein Urlaubsort Matera in Süditalien, 60 km von Bari entfernt, ist für große Überraschungen gut, für solche, die einen vorübergehend sprachlos machen.
 
Also ich traf am 7. Mai 2009 abends in Matera ein und machte mich am folgenden Morgen gleich auf, um pausenlos Freunden und alten Bekannten zu begegnen - das ergab sich zwanglos. "Kleine Veränderungen" - natürlich hier und dort, z.B. ein neues Restaurant, ein soeben eröffnetes Hotel, das eine Grottenkirche in eine Empfangshalle umgestaltet hat (I'hotelinpietra). Die Bauarbeiten am herrlichen Musma-Museum (Museo della scultura contemporanea Matera) sind beendet. Die Sammlungsbestände sind großartig und begründen den internationalen Rang dieses Museums.
Eustachio Rizzi, der die Sassi in miniatura gestaltet hat und ein Geschäft mit Werken aus Tuff betreibt, zeigt mir stolz einen von ihm eingerichteten Höhlenbereich, der das Leben in den Sassi vor hundert Jahren veranschaulicht. Küche, Schlafraum, Stallung, Klo - alles zusammen und im alten Stil. Die Rizzi-­Söhne haben lebensgroße Figuren geschaffen und in die Kleidung der Vorfahren gesteckt. Das ist nun wirklich etwas für Touristen!
Etwas später lerne ich den Bildhauer Pietro Gurrado kennen. Seine Skulptur "La Nostra Grande Madre", farbig und "realizzato in pietra di Lecce", soll einen öffentlichen Platz in Matera schmücken. Als es geschieht, kreist ein Hubschrauber über den Sassi - sicherheitshalber! - denn ein hochrangiger Politiker aus Rom ist angereist, um das Denkmal einzuweihen. Mich interessiert stärker der Produktionsprozeß, den der Meister fotografisch dokumentiert hat.
 
Es gibt auch traurige Nachrichten. Der Maler Filazzola ist weggezogen. Ich war gern in seinem Höhlenatelier und seinem stufenförmig angelegten Garten, in dem sich entzückende Katzen räkelten.
Universitätsprofessor Giuralongo ist tot. Plakate laden zu einer Gedenkveranstaltung im Palazzo Lanfranchi ein. Wir hatten im Jahr 2007 bei unserem Freund Aldo Montemurro, dem Inhaber des Sax Café, ein Buchprojekt besprochen. Geschichten über Sassi-Bewohner, Illustrationen von Gioacchino (so heiße ich in Matera). Nun bleibt mir nur neben der Erinnerung an ein anregendes Gespräch die hastig hingekritzelte Karikatur, die den hochgewachsenen Gelehrten in die Länge zieht...
 
Große Überraschungen? Nur Geduld, jetzt kommen sie! Unmittelbar in der Gasse hinter "unserem"

Matera 2009, Die Sassi - © Joachim Klinger
Haus verbirgt sich eine Schatzkammer, die es zu entdecken gilt. Am großen Eingangstor steht auf einem Schild "Museo­Laboratorio Civiltà Contadina & Vecchi Mestieri". Man geht durch einen Vorhof und betritt die erste Grotte. Sie ist hoch und als Wohnzimmer eingerichtet. Ein Tisch mit der großen irdenen Schüssel, aus der alle Familienmitglieder aßen in der Mitte. Dahinter ein riesiges Bett unter einer hölzernen Zwischendecke, eine Leiter führt in den oberen Bereich. Verblichene Fotos an den Wänden. Überall Geräte und Gefäße.
Donato Cascione, der Sammler und Museumsgründer, geleitet uns über Treppen durch schmale Gänge von Höhle zu Höhle. Möbel, Karren, Instrumente, Hirtenscheren, Prägestempel für das Brot, Töpfe, Tiegel, Kannen. Fast unüberschaubar!
Donato Cascione erzählt mit leiser Stimme von der bäuerlichen Kultur und den alten Handwerken. Ja, Tontöpfe und Keramikgefäße wurden früher fachmännisch repariert. Ja, in der Regel starb man in dem Bett, in dem man geboren worden war. Und diese Überfülle - wie kann man sie erfassen?! Signor Cascione bleibt gleichmütig. Der Staat wird alles übernehmen - irgendwann! Ohne unseren Führer würden wir uns im unterirdischen Labyrinth verlieren. Mehr als zwölf Höhlen haben wir gezählt, hohe und weite Räume, zum Glück gut beleuchtet.
 
Irgendwann öffnet sich eine Tür zu einem Gärtchen, und wir setzen uns ein wenig erschöpft auf eine Steinbank. Ich suche nach Worten, um mein Erstaunen auszudrücken. Signor Cascione lächelt nachsichtig. Er schenkt mir ein Buch, in dem er "Stimmen" gesammelt hat, Aussagen von alten Sassi-Bewohnern. Denn die Dinge sprechen zwar auch, aber über das Schicksal der Menschen sagen sie nichts. Bei dieser Gelegenheit erfahre ich, daß Donato - so darf ich ihn nennen - ­auch Schriftsteller ist. Ich frage ihn, ob ich ihn zum Dank zeichnen darf. Er nickt und setzt sich. Ich skizziere ihn und schenke ihm am nächsten Tag die Porträts. Er ist zufrieden, nachdem er sie lange betrachtet hat.
 
Mein Freund Aldo sieht mir das Erlebnis im Höhlenlabyrinth der bäuerlichen Kultur und der alten Handwerke an. Wahrscheinlich habe ich runde Eulenaugen gekriegt. "Wir machen wieder eine Ausstellung mit Deinen Bildern," kündigt er an und schickt mich zu Signor Roberto Linzalone in das Museo Ridola.
Das Ridola-Museum, an einem schönen Platz in der Nähe des Palazzo Lanfranchi gelegen, birgt herrliche Fundstücke aus Ausgrabungen, die der Arzt und spätere Senator Dr. Ridola finanzierte. Ein archäologischer Schatzbehalter, aber kaum geeignet für meine Matera-Zeichnungen und italienischen Aquarelle, die Aldo betreut.
Signor Linzalone ist freundlich, forscht mich aber auch aus. Seine Sprache ist anspruchsvoll und fordert meine italienischen Sprachkenntnisse in hohem Maße heraus. Später erfahre ich: Er ist ein poeta, ein Satiriker. Ich zeige einige Bilder und erzähle, wie ich 1998 nach Matera gekommen bin und warum ich immer wieder zurückkehre, um hier zu schauen und zu zeichnen. Wir verabschieden uns ohne irgendeine Absprache. Man hat sich kennengelernt. Das war´s.
Mitnichten! Aldo erklärt mir einige Tage später, Signor Linzalone wolle eine größere Zahl meiner Bilder im Keller seines Privathauses ausstellen. Im Keller! Nun ja, es gibt gemütliche Keller, warum nicht?
 
An einem Abend stehe ich mit Aldo vor einer Felsenwand inmitten der Sassi, oberhalb unserer Wohnung und mit herrlichem Blick auf den hochragenden mittelalterlichen Dom. Die Felsenwand ist geglättet, und es gibt eine dunkle Holztür. Roberto Linzalone erscheint, schließt auf und läßt uns eintreten. Zunächst Dunkelheit. Dann werden Lichtschalter bedient. Boden- und Wandleuchten flammen auf. Ein riesiger Raum tut sich auf, eine Art Kirchenschiff. Jedenfalls denkt man sofort an einen Sakralraum, ein fast feierliches Gewölbe mit Seitennischen und -höhlen, das an seinem Ende geheimnisvoll schimmert und dort wie eine Andachtsstätte auf mich wirkt. Die gute Luft ist einer Klima-Anlage zu danken. Die niedrigen eleganten Sessel und Tische erstrahlen in Weiß. Hier könnte man sich ein Treffen von Gralsrittern vorstellen, eine Konferenz von Akademie-Mitgliedern, die Versammlung eines Mönchsordens. Natürlich gibt es große Nebenräume, für die Garderobe, für Toiletten etc.
 
Auf einem mächtigen Tisch, der für eine große Gesellschaft gearbeitet sein muß, soll das Büffet ausgebreitet werden. Darüber sprechen Aldo und Roberto mit südlicher Leidenschaft. Ich gehe - immer noch staunend - durch die Gewölbe und prüfe die Lichtverhältnisse für meine Bilder. Die gerahmten Aquarelle können aufgestellt, die ungerahmten Zeichnungen ausgelegt werden, es gibt genügend Mauervorsprünge, Sitzbänke und Tische.
Die Vernissage wird ein Erfolg, viele interessierte Gäste, gute Gespräche etc. Aber davon soll nicht die Rede sein. Mir geht es um die geheime Welt dieser Stadt im "Untergrund“. Unvergleichlich! Wenn die Bauten von Matera verschwänden, "das Unterirdische" würde bleiben, das Labyrinth von kirchenschiffartigen Grotten, Wohnhöhlen, Treppen, Gängen, in sich verschachtelt, über- und untereinander.
 
Am nächsten Abend gehe ich die Via Fiorentini entlang bis zur Steinmauer, die vor dem Absturz in die Schlucht bewahrt. In der Tiefe hört man den kleinen Fluß Gravina, der sich dahinschlängelt und die Flanken der Stadt umspült. Diese belebten Abgründe - man muß sie kennen! Sonst bleibt einem Matera im Kern verschlossen, sonst bleibt die Bekanntschaft oberflächlich.
Abgründe - das Abgründige in einem Menschen. Geheime Offenbarung des wahren Wesens. Wunderbares und Schreckliches kann zu Tage kommen. Ich spreche mit meinen italienischen Freunden darüber. Sie verstehen mich, aber ein aussagekräftiges Wort, das "Abgründiges" ausdrücken kann, existiert in der italienischen Sprache nicht.
 
Lassen wir das deutsche Grübeln! Ich hatte früher Führungen mitgemacht und Höhlenkirchen mit schönen Fresken besichtigt. In diesem Jahr hat sich mir die unterirdische Welt von Matera offenbart. Das war die große Überraschung! Ich bin der Stadt und ihrem geheimen Wesen im Labyrinth riesiger Höhlen nähergekommen. Jetzt weiß ich mehr, gewiß noch nicht alles.
 

© 2009 Joachim Klinger  -  Erstveröffentlichung in den Musenblättern
Redaktion: Frank Becker
 
Lesen Sie auch Joachim Klingers Artikel über das Weltkulturerbe der Welt der Höhlen und verwinkelten Taleinschnitte der Sassi in der süditalienischen Region Basilicata: www.musenblaetter.de/artikel