Im September 1989 öffnet Ungarn die Grenze nach Westen

Andreas Oplatka - "Der erste Riss in der Mauer"

von Stefan Schmöe
Das Ende des „Eisernen Vorhangs“
 
Im September 1989 öffnet Ungarn die Grenze – und läutet damit das Ende des Warschauer Pakts ein. Andreas Oplatka hat die politischen Hintergründe recherchiert.
 
Zu den wichtigen Stationen, die dem Fall der Berliner Mauer und damit der deutschen Wiedervereinigung vor nunmehr 20 Jahren vorausgingen, gehört die Öffnung der ungarischen Grenze für ausreisewillige DDR-Bürger in der Nacht vom 10. auf den 11. September 1989. Der in Ungarn geborene und 1956 in die Schweiz übergesiedelte Historiker und Journalist Andreas Oplatka, langjähriger außenpolitischer Redakteur der Neuen Zürcher Zeitung, hat die Ereignisse im Vorfeld dieses historischen Datums rekonstruiert. In Buchform liegt nun pünktlich zum Jahrestag ein gleichermaßen detailliertes wie fesselndes Bild dessen vor, was hinter den Kulissen der Budapester Ministerien in diesen Tagen vor sich ging. Dabei betrachtet Oplatka den Zeitraum vom Sommer 1987 an, als die Frage nach einer Erneuerung der maroden ungarischen Grenzsicherungsanlagen auf die politische Tagesordnung kam, über die Massenflucht beim „Paneuropäischen Grenzpicknick“ am 19. August 89 bis zu eben jenem 10. September, als Außenminister Gyula Horn am Abend höchst medienwirksam die endgültige Öffnung der Grenze zur Mitternachtsstunde ankündigte.
 
Die Konsequenzen dieser Entscheidung, nämlich letztenendes den Zusammenbruch des östlichen Bündnisses, haben die ungarischen Reformer seinerzeit nicht einmal entfernt abgesehen – das ist ein Fazit aus dieser sachlichen, jegliches Pathos vermeidenden Darstellung. Geleitet wurden die Handelnden weniger durch hehre weltpolitische Ziele als vielmehr getrieben von tages- und innenpolitischen Notwendigkeiten, die sich aus der eskalierenden Situation – dem unerwarteten und kaum zu bewältigenden Zustrom von ausreisewilligen DDR-Bürgern – ergaben und eine schnelle Lösung erforderten. Der eigentliche Anlaß für den Abbau der Grenzanlagen war ohnehin recht profan: Für eine Instandsetzung oder gar Modernisierung der veralteten Überwachungsanlage, die durch etliche Fehlalarme zunehmend zu einer untragbaren Belastung der Grenzschutztruppen geworden war, fehlte das Geld. Gleichzeitig schwand bei Regierung wie Bevölkerung die Akzeptanz einer aufwendigen Grenzanlage, die vor allem Bürger der „Bruderländer“ DDR und Rumänien am Grenzübertritt hindern sollte, während die ungarischen Bürger ohnehin weitgehende Reisefreiheit besaßen.
 
Oplatka stellt aber auch klar, daß erst der Reformwille der ungarischen Regierungspolitiker die Grenzöffnung ermöglicht hat. Schlüsselfigur ist für Oplatka Ministerpräsident Miklós Nemeth, der die Regierung aus der Umklammerung der allmächtigen Sozialistischen Partei (deren Politbüro er selbst angehörte) und für das Frühjahr 1990 freie Wahlen angesetzt und damit ein Mehrparteiensystem eingeführt hatte. Oplatka beschreibt Németh als exzellenten Fachmann in Wirtschaftsfragen, für den das Ende des wirtschaftspolitisch unfähigen Einparteienstaates die einzige Möglichkeit gewesen sei, den drohenden Staatsbankrott abzuwenden. Die zweite wichtige Figur in dieser Darstellung ist Innenminister István Horváth als Verantwortlicher für den Grenzschutz. Nicht unkritisch sieht Oplatka dagegen die Rolle des im Westen gefeierten Außenministers Gyula Horn (der von 1994 – 98 frei gewählter Ministerpräsident des Landes werden sollte). Zwar räumt auch Oplatka ein, daß Horn maßgeblich an allen Entscheidungen beteiligt war, seine Funktion im Nachhinein aber auch (anders als Németh und Horváth) über die Maßen zu glorifizieren wußte.
 
Höchst beeindruckend ist die Anzahl der Interviews, die Oplatka zwischen 2004 und 2006 mit hochrangigen Politikern geführt hat. Die 52 Namen umfassende Liste reicht von quasi allen entscheidenden ungarischen Reformpolitikern der Zeit über den damaligen Botschafter der DDR in Budapest, Gerd Vehles, sowie Politbüro-Mitglied Günter Schabowski, den Außenminister Hans-Dietrich Genscher und einflußreiche Bonner Politiker wie Staatssekretär Jürgen Sudhoff und Kanzler-Berater Horst Teltschik bis hin zu Michail Gorbatschow. Allein Altbundeskanzler Helmut Kohl hat (zum Unverständnis des Autors) den Interviewwunsch abgeschlagen. Mit dem seinerzeitigen ungarischen Ministerpräsidenten Németh hat Oplatka insgesamt acht Gespräche geführt. Zu dieser Fülle an Zeugenbefragungen kommen akribische Literatur- und Aktenstudien. Auf dieser Basis zeigt Oplatka auch Widersprüche in den Erinnerungen der damaligen Akteure auf und leistet manche Klarstellung. Auch wenn der Detailreichtum der Darstellung hier und da zu Wiederholungen führt, ist Oplatka ein sehr lesenswertes Buch gelungen, das neben der Geschichte der ungarischen Grenzöffnung auch viel von den mitunter recht banalen Mechanismen erzählt, mit denen Weltpolitik gemacht wird.

Redaktion: Frank Becker
Beispielbild


Andreas Oplatka
Der erste Riss in der Mauer.
September 1989 – Ungarn öffnet die Grenze
 
© 2009 Zsolnay Verlag, Wien
ISBN-10 3552054596
ISBN-13 9783552054592

Gebunden, 302 Seiten,
21,50 €
 
Weitere Informationen: