Lesesommer 2009 (4)

Aus dem prallen Leben in seinen leisen und schillernden Facetten

empfohlen von der Musenblätter-Redaktion

Foto © Frank Becker
Mitten im Lesesommer
heute: Aus dem prallen Leben


Noch einmal ist der Sommer kräftig aufgeblüht, Balkon, Gartenlaube und Biergarten sind das Ziel der Alltags-Pilgerer. Sonnenschirm, Markise, Liegestuhl - und ein Buch. Was braucht der Mensch mehr? Vielleicht ein paar Tips. Die hat die Musenblätter-Redaktion auch heute für Sie.
Immer wieder gerne tauchen Leser in fremde Leben ein. (Auto-) Biographien, Briefwechsel, Erinnerungen, aber auch Romane, welche die Fiktion eines Lebens erzählen, ermöglichen je nach persönlichem Wunsch den Blick aus der Distanz oder das tiefe, intime Eindringen in ein fremdes Leben. Der Reiz ist beide Male gleichermaß groß. Heute stellen wir Ihnen ein wenig Prosa der jüngsten Zeit vor, die von Menschen erzählt.

F
rançoise Dorner haben wir
vor zwei Jahren durch ihren wundervollen Roman "Die letzte Liebe des Monsieur Armand", der ebenfalls bei Diogenes erschienen ist, ins Herz geschlossen. Nun hat sie,
wieder mit großem Herzen, erneut einen kleinen Roman über ein Schicksal etwas außerhalb der "Norm" geschrieben: "Die Frau in der hintersten Reihe". Mme. Nina führt einen Zeitungskiosk in Paris, ihre Ehe ist reizlos, beinahe abgestanden. Kein abenteuerliches Leben und nichts, das etwas daran ändern könne - bis sie den heimlichen Reiz entdeckt, den erotische Magazine wie der Playboy auf ihre Kunden ausüben. Wie es wohl wäre, wenn man selbst...? Mme. Nina beginnt ein Doppelleben, läßt sich verführen und verführt in aller erotischen Unschuld selbst - schließlich unerkannt in raffinierter Verkleidung von der letzten Reihe eines dunkel Kinos aus den eigenen Mann. F
rançoise Dorner erzählt die ein wenig traurige, wenn auch recht erregende erotische Geschichte aus der Warte Ninas, der frau von Herzen (von der Leserin ambivalent zu verstehen)  ihre Ausflüge in die gelebte Lust gönnt. Daß das Ende nicht romantisch, sondern ernüchternd ist, paßt zum Leben. (sab)
Françoise Dorner - "Die Frau in der hinteren Reihe", © 2008 Diogenes Verlag, 158 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag, 17,90 €
Weitere Informationen unter: www.diogenes.ch


Auch die Ich-Protagonistin von Amélie Nothombs autobiographischem Roman "Biographie des
Hungers" steht in ihrer eigenen Welt außerhalb der bürgerlichen Normen - aber geht das nicht allen Heranwachsenden so? Hier aber haben wir die Gelegenheit, einer außergewöhnlichen Kindheit zuzuschauen, bestimmt durch die diplomatische Reisetätigkeit des im Dienste der belgischen Regierung stehenden Vaters. In Kobe/Japan geboren und in China, Bangladesh, Burma, den USA und Belgien aufgewachsen hat Amélie Nothomb gelernt, mit fremden Kulturen umzugehen, Abschied zu nehmen, die Eindrücke fremder Welten aufzusaugen. Den Hunger in seiner ursprünglichen Bedeutung hat sie nicht erleben müssen, doch wird ein Hunger nach Menschen, Literaturen, nach Anerkennung, nach Süßigkeiten und dann nach Alkohol ihre ersten 20 Jahre begleiten. Davon erzählt Amélie Nothomb mit leisem Humor. (ros)
Amélie Nothomb - "Biographie des Hungers", © 2009 Diogenes Verlag, 207 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag, 18,90 €
Weitere Informationen unter: www.diogenes.ch



In einer völlig anderen Welt lebt Bernd Imgrunds Roman-Anti-Held Fränkie Kattwinkel. Ein Underdog,
ein Tiefflieger, ein Typ ohne Bedeutung, einer, mit dem keiner redet und dessen Stimme daher eingerostet ist, dessen Barhocker-Reflexionen nichtsdestotrotz eine gewisse (na ja, nicht allzu tiefe) Tiefe erreichen, der man die intensive tägliche Express- und Bild-Lektüre anmerkt. Vor allem der Mädels von Seite 1. Immerhin. So sitzt er in der Kneipe und monologisiert ohne Luft zu holen über - nein nicht Gott - aber über die Welt, so wie er sie sich zurechtgelegt hat. Imgrund hat diesen Verlierer mit Wampe, dessen Horizont sich nur unwesentlich über den Kosmos der Abteilung Holzzuschnitt des Baumarktes hinaus erstreckt, in dem er arbeitet, so griffig und mit Witz gezeichnet, daß es das pure Vergnügen ist, ihm zuzuhören. In der Tat vergißt man bei der Lektüre, daß man liest, man hört Fränkie reden, folgt amüsiert seinem atemlosen Monolog. Sein Sozialneid konzentriert sich im wesentlichen auf die prolligen Spacken (nein, er selber ist ja keiner, natürlich nicht!), die im Gegensatz zu ihm die geilsten Ischen abschleppen. Ja, Poppen, das wäre was, davon träumt er. Aber irgendwie kriegt er das nicht hin, so eine Tusse kennenzulernen, die es mit ihm macht. Ist auch schwer, wenn einem im entscheidenden Moment nix Gescheites einfällt und wenn der Kernsatz der Fränkie´schen Philosophie lautet: "Wer seinen Platten nicht flicken kann, der soll Socken Stopfen". Bleibt das abendliche Bier, bei dem er sich stark und klug fühlt - nur er hat den Durchblick, klar - und man kann verstehen, daß dem armen Hund nur ein Kranz Kölsch weiterhilft. (bec)
Bernd Imgrund - "Fränkie", © 2008 Emons Verlag, 208 Seiten, Paperback, 12,90 €
Weitere Informationen unter: www.emons-verlag.de

A
ndré Kubiczeks "Kopf unter Wasser" wird als Liebesroman apostrophiert, ist aber mehr. Es ist ein
Roman über das Scheitern auf allen nur möglichen Ebenen, ein Roman der Desillusionierung. Es ist auch ein Roman über einen ganz zeittypischen Vertreter der New Generation, Henry K. - ahnen wir da eine Verwandtschaft zu André K.? Denn Kubiczek beschreibt, was jungen Autoren geschieht, die vom Moloch des Verlagswesens und von der unzuverlässigen Liebe aufgefressen werden - und was solche Menschen tun, besser: nicht tun, um das auch noch herauszufordern. Also doch ein Stück weit ein Liebesroman. Aber auch Crime & Suspense. Was das trotz seiner fatalen Entwicklung und der nachgerade hassenswerten Gleichgültigkeit Henrys dennoch spannende und trotz gelegentlicher Worthülsen und Klischees insgesamt gut erzählte Buch aber gleichermaßen beeindruckend wie quälend beherrscht, ist seine unerhörte Leere. Da geschieht viel, mit dem Protagonisten, geschieht, was durch ihn
geschieht, bzw. durch das was er meist nicht, mitunter aber dann überzogen tut und was nicht geschieht, weil er es im richtigen Moment unterläßt, die Entwicklung zu beeinflussen. Kann nicht gut ausgehen, tut es auch nicht. (ros)
André Kubiczek - "Kopf unter Wasser", © 2009 Piper Verlag, 235 Seiten, geb. m. Schutzumschlag, Lesebändchen, 18,- €
Weitere Informationen unter:
www.piper.de 

Von ganz besonderen Aspekten des Lebens erzählen die gesammelten erotischen Geschichten der besten Pornographin seit Anaïs Nin: Sophie Andresky. Wo ein Charles Bukowski fies und brutal ist,
ein Henry Miller unter dem Vorwand, Literatur zu schreiben geradezu eklig überzieht (mal abgesehen von "Stille Tage in Clichy") und eine kleine verkrampfte Vaginalkünstlerin wie Charlotte Roche peinlich ihre feuchten Niederungen offenlegt, ist Sophie Andresky die Hohepriesterin der edlen erotischen Erzählung, der Pornographie mit Stil. Sie beherrscht die luftige Gratwanderung zwischen Heiterkeit und Hardcore, Lust und Literatur. Frauen erfüllt sie mit ihren prallen, saftigen Geschichten die heimlichen Wünsche und Sehnsüchte, die in uns allen lauern, indem sie unverblümt ausspricht, was sonst nicht ausgesprochen wird, Männern gibt sie die Chance zu ahnen, was sie tun sollten. Denn Sophie Andresky weiß, worauf es ankommt. Der mit 987 Seiten gewaltige und keine einzige Seite langweilige Sammelband "Mein Harem" ist auf köstlichste Weise unterhaltsam und tut wieder genau das, was bereits der Kolumnen-Sammlung "Echte Männer. Was Frauen wirklich wollen" bescheinigt wurde: er bringt Thema Nr. 1 "in appetitlicher Direktheit auf den G-Punkt". Gehört in jedes Schlafzimmer (solange kein Kerl da ist). (sab) 
Sophie Andresky - "Mein Harem. Alle erotischen Geschichten", © 2009 im Haffmans Verlag bei Zweitausendeins, 987 Seiten, gebunden, Lesebändchen, 18,90 €
Weitere Informationen unter:
www.Zweitausendeins.de

Redaktion: Frank Becker