Der Argwohn am Gartenzaun

von Victor Auburtin

Foto © Frank Becker
Der Argwohn am Gartenzaun
 
Der Pessimist aus Berlin ist in die Welt hinausgereist. Jetzt sitzt er neben dem Gartenzaun und trinkt einen Schoppen Weißwein; am Hügelabhang, mitten im weiten herbstlichen Lande Franken.
Zwischen dem Trinken schreibt er eine Karte an seine Frau, die in Berlin geblieben ist, weil sie sagt, sie möchte sich ein wenig erho­len. Es ist eine bunte Postkarte und stellt die heilige Kunigunde dar, die mit nackten Füßen über glühendes Eisen geht, um ihre Unschuld zu beweisen.
Hinter dem Gartenzaun steht ein fünfjähriges blondes Mädchen und sieht dem Pessimisten zu, wie er schreibt.
»Darf ich die Karte für Sie in den Kasten tragen?« fragt sie, und sie fragt es so nett, daß sich selbst das Herz des Pessimisten erwärmt. »Sehr gern, mein liebes Kind«, antwortet er und streckt seine Zunge heraus, um daran eine Briefmarke zu befeuchten.
Aber während er das tut, steigt ihm ein furchtbarer Argwohn auf. Mein Gott, wie ist doch die Welt jetzt so verderbt; selbst hier im Frankenland, selbst die kleinen Mädchen.
Natürlich rechnet dieses Mädchen ganz einfach auf die Brief­marke. Das liegt klar auf der Hand. Sie wird die Karte nicht in den Kasten werfen, sondern damit in einen entlegenen Winkel enteilen. Dort wird sie die Marke abtrennen, sich dann eine Fla­sche Gummiarabikum verschaffen und kann nun die Marke zu ihren eigenen gewinnsüchtigen Zwecken verwenden.
Die heilige Kunigunde bekommt sie noch dazu.
Der Pessimist aus Berlin sieht das kleine Mädchen durchbohrend an, um ihr zu zeigen, daß er sie durchschaut hat; aber sie lacht nur und streckt die Hand nach der Karte aus.
Gewiß muß er ihr die Karte geben, denn er möchte sie nicht gern kränken. Aber er will sichergehen.
So schreibt er auf die Karte ganz klein in die Ecke: »Es liegt mir viel daran, zu erfahren, ob Du diese Karte erhältst oder nicht. Ist sie bis Mittwoch nicht angekommen, so schreibe mir das bitte umgehend an die bekannte Adresse.«