Abhängig

von Friederike Zelesko

Foto © Frank Becker
Abhängig
 
Das größte Hindernis des Lebens ist die Erwartung, die vom Morgen abhängt.
(Seneca, Vom glückseligen Leben)
 

Trägt der Wetterstein einen Hut, wird das Wetter gut, trägt er einen Sabel, wird das Wetter miserabel
  sagt man am oberen Lauf der Isar, wenn ein Sommergast im Haus ist, der seine Wanderung zum Lautersee oder zum höher gelegenen smaragdgrünen Wasserauge des Ferchensee vom Wetter abhängig macht.           
            Eben der Abhängigkeit von Beruf und Alltag entflohen, überläßt sich der Gast nun der Abhängigkeit von der Naturgewalt. Diese bricht mit aller Macht in Form eines Karwendelgebirges oder einer Leutaschklamm über ihn herein. Er begegnet ihr mit Rucksack, Kniebundhosen, Bergschuhen und einem Wanderstock. Wo er sich auch gerade befindet, in den urigen Lädchen der Obermarkt, in den Gaststuben im Grieß, oder in der Schnapsbrennerei auf der Gröblalm, immer sind es die Berge, die in die getäfelten Stuben der Rast unberechenbar hineinwinken. Sicher waren es auch die Berge, die die Freskenmaler der Region ins Freie trieben, ins Lüftl. Wenn sie die Legenden in leuchtenden Farben und Formen für die Nachfahren an die Hausfassaden schrieben, ging es ihnen um mehr, als diese alten, frommen Geschichten.
            Wie weit es heute um die Frömmigkeit bestellt ist, zeigte die Verschiebung der Fronleichnamsprozession vom traditionellen Donnerstag auf den nachfolgenden Sonntag wegen ein bißchen Regen und einer Schafskälte, die sich auf eintausendfünfhundert Meter in Schnee verwandelte. Da denkt die Kirche schon praktisch, mögen die alten verschnörkelten Namensschilder aus Emaille an den Kirchenbänken von St. Peter und Paul protestieren so viel sie wollen. Überhaupt ist das so eine Sache mit den Namen. Man unterhält sich mit seinem Gastgeber, dessen Name auf seinem Haus über dem Eingang steht und mit dem er im ganzen Ort angeredet wird, und später, sollte man noch einmal kommen wollen, erfährt man, daß er eigentlich ganz anders heißt.
            Es sind alte Hausnamen, die sich von Generation zu Generation über die Nachfahren von Mittenwald und Umgebung legen wie eine zweite Haut, und die keiner mehr abstreifen kann, ebenso wenig wie die Vorhersage des Wetters beim Blick auf die Berge.



© 2009 Friederike Zelesko