Über Leben und Tod

von Erwin Grosche

Foto © Harald Morsch
Über Leben und Tod
 

Bei der Planung der Dinge, die ich in diesem Leben unbe­dingt noch erledigen wollte, steht Fensterputzen an letzter Stelle.
Ich habe lange gar nicht gewußt, daß man sie säubert. Ich dachte, von außen reinigt sie der Regen und von innen braucht man sie nicht säubern, weil es dort nicht regnet. Regen ja! Aufregen nein! Aber wissen Sie, im Grunde in­teressieren mich gereinigte Fenster überhaupt nicht, ich schaue sowieso kaum hindurch. Früher schon. Sogar oft. Früher schaute ich oft durch mein Fenster und meistens auf das meiner Nachbarin, die durch ihr Fenster auf meines schaute. Aber irgendwie schaffte ich es nie, daß sie sich für mich auszog. Ich meine, warum auch? Die Fensterscheiben waren beschlagen. Alles wirkte verschwommen wie in ei­nem David-Hamilton-Film, und der wird morgen auf Sat 1 wiederholt, und ich habe doch kein Kabel.
     Natürlich habe ich ein Fensterwischset. Ich habe sogar ein Fensterwischset mit einem schwenkbaren Schwing­kopf. Mein Fensterwischset mit dem schwenkbaren Schwingkopf hat sogar eine Silbermedaille gewonnen auf der Weltausstellung in Paris. Mein Fensterwischset mit dem schwenkbaren Schwingkopf hat nur den einen Nach­teil, daß es immer jemanden dabei braucht, der ihm über­haupt erklärt, wozu es da ist. Ich finde, das hört sich doch sehr stark nach Arbeit an. Ich möchte mal wissen, wel­ches Fensterwischset auf der Weltausstellung in Paris die Goldmedaille gewonnen hat! Wahrscheinlich hat es zwei Beine und darf je nach Wunsch Marcel oder Brigit ge­nannt werden und putzt nackt. Das zur Weltausstellung in Paris. Wieder am falschen Ende gespart. Nein, nein, nein. Ich habe in mich gehorcht und keine Kraft der Welt über, die mich zwingt, auf eine kleine Stehleiter zu stei­gen und womöglich mein Fenster zu putzen. Bei mei­nem Glück sieht man mich noch dabei.
     Bei der Planung der Dinge, die ich in diesem Leben un­ bedingt erledigen wollte, steht Fensterputzen an letzter Stelle, dicht gefolgt vom Fußnägelschneiden. Ich habe lange Zeit gar nicht gewußt, daß da unten noch jemand wohnt. Natürlich hatte ich meinen Körper bereits bis zur Mitte er­forscht und bin eigentlich ganz gut damit gefahren, und auf einmal melden sich die da unten und zwicken und schaffen sich durch meine Strümpfe Luft. Ich habe natürlich nun das Gefühl, wenn es noch nicht zu spät dafür geworden ist, auch ihnen das Gefühl zu geben, daß sie genauso zu mir gehören wie auch Herz, Milz und Leber. Habe ich auch Herz, Milz und Leber gesagt: »Begrüßt eure neuen Freunde und laßt diese Hinterwäldler nicht so spüren, daß ihr ihre Schirmmützen so putzig findet, die gehen auf meine Kappe.«
     Bei der Planung der Dinge, die ich in diesem Leben noch unbedingt erledigen wollte, steht Fensterputzen an letzter Stelle, sehr dicht gefolgt vom Fußnägelschneiden, dicht ge­folgt von »Bloß keinen Sport treiben«. Das hätte mir noch gefehlt. Wie ich mich kenne, schwitze ich wieder dabei. Verstehen Sie mich nicht falsch, Sportler können meinet­wegen schon Sport treiben, aber die sind doch auch ganz anders gebaut. Aber was soll ich denn mit einem Trainings­anzug durch den Wald rennen und keine Brötchen holen? Es muß doch alles einen Sinn haben. Außerdem empfinde ich auch Sport treiben als Eingriff, als Eingriff in das Werk eines Gottes, der uns erschuf nach seinem Ebenbild. Das muß man akzeptieren können. Wenn ich höre, daß Gott anfängt, selbst Sport zu treiben, dann ziehe ich natürlich nach, schon wegen der Ähnlichkeit. Ansonsten verlasse ich mich auf die Vorsehung und das mit allen Konsequenzen.
     Bei der Planung der Dinge, die ich in diesem Leben noch unbedingt erledigen wollte, steht Fensterputzen an letz­ter Stelle, dicht gefolgt vom Fußnägelschneiden, dicht ge­folgt vom »Bloß keinen Sport treiben«, dicht gefolgt von »Bloß nicht mehr verlieben«. Nein, nein, nein. Das tue ich mir nicht mehr an. Wenigstens nicht in echt. Natür­lich habe ich mich letzte Woche einmal verliebt, aber doch nicht in echt. Ich habe ihr auch knallhart gesagt: »Schatz, wenn ich wach werde, muß ich zur Arbeit.« Verstehen Sie, das war ein Traum. Mein einziger Traum in einem Fünf-Stunden-Schlaf. Im Grunde gerade zum Aushalten.
     Und am Nachmittag war ich dann am Kartoffel schä­len. Ich hatte noch links das Kartoffelmesser in der Hand und rechts die Kartoffel, da klingelte es plötzlich an mei­ner Haustür. Ich denke, da kann ich doch wohl aufmachen. Ich wohne da doch. Da stand da eine Frau vor der Tür, die mich fragte, ob ich mir vorstellen könnte, daß ein Mensch allein die ganze Welt erlösen könnte. Ich sagte, sicher, aber bei mir ist es gerade wirklich sehr schlecht. Ich bin doch gerade am Kartoffeln schälen, aber fragen Sie mal meinen Nachbarn Winni, der ist pensioniert, hat Zeit und ist auf Zack. Natürlich hatten wir uns völlig mißverstanden. Sie fragte dann wieder, ob ich mir vorstellen könnte, daß ein Mensch allein mit seiner Liebe die ganze Welt erlösen könnte. Und da fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen. Da war das die Frau aus meinem Traum ge­wesen. Ich lachte, zwinkerte ihr zu und sagte: »Natürlich kann ich mir vorstellen, daß ein Mensch allein mit seiner Liebe die ganze Welt erlösen könnte, aber warum denn so global denken, warum nicht beginnen mit kleinen ersten Schritten?« Natürlich hatten wir uns wieder völlig miß­verstanden. Nach einer Zeit bekam ich sogar heraus, sie war bereits verheiratet, natürlich mit einem Arzt, »Hat­-einen-eigenen-Parkplatz«, und da stand ich nun mit mei­nen Ärztesocken und fühlte mich wie ein Ausschlag.
     Bei der Planung der Dinge, die ich im Leben noch unbe­dingt erledigen wollte, steht Fensterputzen an letzter Stelle, dicht gefolgt vom Fußnägelschneiden, dicht gefolgt von »Bloß keinen Sport treiben«, dicht gefolgt von »Bloß nicht mehr verlieben «, dicht gefolgt von »Bloß keine Harfe spie­len lernen«, und schon gar nicht diese Melodie. Schrumm, schrumm di Bumm! Diese Melodie, die einen so nachdenk­lich macht, und es ist doch noch gar nichts passiert, was einen so nachdenklich macht. Und man könnte so Dinge sagen wie: »Ich lasse mir morgen deine Haare schneiden«, und schon macht es einen wieder so nachdenklich. Und man könnte so Dinge sagen wie: »Ich lasse mir nicht gerne von Jugendlichen die Tür aufhalten, ich muß mich dann immer so beeilen.« Und schon wird man wieder so nach­denklich. Das ist doch gemein. Und man könnte so Dinge sagen wie: »Na, Kapitän Wunderbar, ist noch Platz auf deinem Luxusdampfer? Gehen wir auch bestimmt unter?«
     Und dann kommt man bestimmt in den Himmel. Man ist ja den ganzen Tag am Harfe spielen gewesen, man kommt ja zu nichts anderem. Und dann sagen die da oben: »Der kann aber schön Harfe spielen, den nehmen wir nicht zum Donnern, den nehmen wir nicht zum Wind machen. Der soll bei uns Harfe spielen, den ganzen Tag Harfe spielen.« Und dann rufe ich: »Eh Jungs, macht bloß keinen Scheiß. Gebt mit irgendwas Reelles, irgendwas Handfestes.« Und dann kommt einer von denen und sagt: »Kein Problem. Wir brauchen noch jemanden, der bei uns die Fenster säubert.«
Und ich denke, »Wußt ich's doch, wußt ich's doch.« Das zum Himmel. Aber man muß bescheiden bleiben. Ich habe schon herausgefunden: Im Himmel wachsen keine Fußnägel, ... aber natürlich Flügel ..., aber natürlich Flü­gel ...



 © Erwin Grosche – aus: „Warmduscher-Report“
Veröffentlichung in dem Musenblättern mit freundlicher Genehmigung