Morgen...

...mit Sauna und Opernsänger

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Morgen

mit Sauna und Opernsänger
 

Heute treffe ich auf kein einziges bekanntes Gesicht in der Bäckerei. Sogar die Bäckerin ist eine neu eingestellte Aushilfskraft.  Fast fühle ich mich wie ein Fremder, der nicht weiß, wo er hingehen soll.
Mein Blick schweift durch die offene Tür über den grauen Asphalt, über den Zeitungsständer mit den bunten Wochenmagazinen, in denen so selten ein Artikel steht, der Neues berichtet, oder eine neue Meinung äußert, oder wenigstens ein eigene.  
Freilich, überall sitzen da hinter den Redaktions-Schreibtischen beflissene, fleißige Menschen, die damit ihr Brot verdienen - und darum ist jetzt Schluß mit den  Weltbetrachtungen, denke ich, zumal du sowieso kein Rezept für eine bessere Welt hast.
 
Aber mir fällt etwas Besseres ein, ich gehe in die Sauna. Allerdings läuft da auch nur eine Handvoll unbekannter Nackichter herum, die übliche Munterkeit fehlt. Auch die Sauna will heute kein Zuhause sein.
Ich gehe hinab ins Hallenbad, und sieh an, als ich nach einer Stunde zurück in die Sauna komme, haben sich doch schon mehr Leute eingefunden. Da ist eine tiefbraun gebrannte, nicht ganz junge, Dame. Die scharfen Markierungen der hellgebliebenen Körperstellen, die von den UV-Strahlen des Sonnenstudios nicht erreicht worden sind, fallen auf. Trauriger ist dagegen der Bericht von Frau L., die ihre chronisch kranke Tochter und deren Kind versorgt, hoffnungsfreudiger die Situation von Herrn B., der seine neuen Hörgeräte vorzeigt, die ihn praktisch von seiner Fast-Taubheit befreit haben.
 
Dann der Gastwirt, der sein Lokal wegen Umbauten am Haus schließen muß, er verliert den Wert, den er beim Einzug investiert hat. Er selbst hat, zumindest vorübergehend, eine Anstellung gefunden. Aber was wird danach sein? Er möchte eines Tages wieder ein Restaurant aufmachen, aber dann müßte er alles neu überlegen. Denn die Klientel hat sich geändert. Die jungen Leute gehen heute viel seltener ins Restaurant, ihnen fehlt zunehmend das Geld.
Wer pünktlich am Monatsende sein Geld bekommt, das sind nur noch die Rentner. Auf die setzt er. Freilich, auch von denen sind zuletzt manche nicht mehr gekommen, sie haben gespart, damit ihre erwachsenen Kinder in Urlaub fahren konnten. Alles ist schlechter geworden.
 
Jetzt weiß ich auch etwas über Gastwirts-Sorgen, denke ich, aber latent habe ich das eigentlich schon vorher gewußt. Diesmal fühle ich jedoch etwas, das mehr ist als nur wissen, ich ahne seine Sorge und seine Angst. Er steht auf einem Fels und muß springen. Niemand außer ihm selbst kann dafür sorgen, daß er einigermaßen menschenwürdig durch Leben kommt..
 
Aber ich habe noch weitere Informationen zu erwarten.
 
Eine tiefe Stimme brummt mir ein „Hallo“ entgegen – unser Opernsänger aus Köln ist gekommen, der wöchentlich seine alte Mutter und die Sauna besucht. Wir rasten nebeneinander in Liegestühlen hinter der besonnten Glasscheibe, hinter der nur Dächer und weiße Wölkchen zu sehen sind.
 
Ich weiß nicht mehr, wie unser Gespräch begann – doch, ja, es ging um ein Wunderkind, ich kenne es, das schon mit Vierzehn Arien sang, aber jetzt als Erwachsene muß sie manchmal auf Engagements warten.
„Wissen Sie“, sagt mein Opernsänger, der übrigens aus Holland stammt, „das Einzige, was auf Dauer zählt, ist Qualität.“
 
Da kann ich nur zustimmen. Er redet weiter: „ Ich habe junge Kollegen, die wollen gleich einen Meister in den „Meistersingern“ darstellen, aber sie üben nur sporadisch. Wer Meister werden will, muß üben. Er muß mindestens drei Stunden am Tag bei einer Sache bleiben, er muß zehn Jahre daran arbeiten. Und das gilt für alle, auch die Hochbegabten. Manche sagen, aber der Mozart hat schon mit sechs Jahren komponiert - richtig - aber er mußte erst Einundzwanzig werden, ehe er wirklich großartige Musik geschrieben hat. Arbeit, nichts als Arbeit. Und ein Sänger muß nicht nur hören, er muß auch spüren. Caruso war fast taub. Bei ihm waren die Eustachischen Röhren kaputt, er konnte sich selbst nicht singen hören, er konnte seine Stimme nur spüren. Aber das konnte er, das hat er geübt.“
 
Kann man sich merken, denke ich. Gut, daß ich kein Sänger geworden bin.
Am Mittag fahre ich zufriedener nach Hause. Sauna macht ohnehin glücklich, aber dazu noch Menschen - die reichen Leben und Lebenskraft einander zu. Daß sie auch Hexen verbrennen, daran will ich jetzt nicht denken.
 

© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker