Wenn am Abend in den Gärten...

von Hanns Dieter Hüsch

© André Poloczek - Archiv Musenblätter
Wenn am Abend in den Gärten...

Wenn am Abend in den Gärten
Sich die Toten ein Stelldichein geben
Fangen alle alten Dinge
An zu sprechen und wieder zu leben
 
Und ich sehe die Verwandten
Mal in schwarz und mal in bunt
Und sie reiben sich die Finger
An den Fensterscheiben wund
 
Und sie fragen ohne Ende
Fragen nach dem Enkelkind
Ob es seine Ruhe fände
Oder ob es wie Peer Gynt
 
Durch die Wälder durch die Wüsten
Mit zerbrochenem Herzen zöge
Oder ob es wie ein Vogel
Übers Eismeer zum Niemandsland flöge
 
Oder ob es mit den Spielern
In den Kneipen die Zukunft verspiele
Ob es immer noch so schmal sei
Was es denke empfinde und fühle
 
He he hejaja lalalalalalala
 
Und ich sehe meinen Vater
Wie er seine Brille putzt
Und dann seh ich wie er mich sieht
Und ich sehe wie er stutzt
 
Und ich höre wie er flötet
Eine Wagner-Melodie
Daß das Leben ihn getötet
Sagt er einem Vis-a-vis
 
Wenn am Abend in den Gärten
Sich die Blumen im Walzertakt wiegen
Sitz ich oft an meinem Fenster
Und versuche mich selbst zu besiegen
 
Und ich sehe meine Mutter
Mit der Brosche und dem Hut
Und sie fragt mich wie's mir gehe
Und ich sage: leidlich gut
 
Und sie dreht sich zu den andren
Die erheben die Blasinstrumente
Und sie singt dazu die Worte
Wie's mir wirklich ergangen sein könnte:
 
Und dann ging er in die Taiga
Traf sich abends mit Rimbaud
Später kam noch Baudelaire
Und sie brannten lichterloh
 
Denn sie sprachen von den Städten
Von den Nächten und vom Mai
Und von den verschiednen Betten
Und dann schwiegen alle drei
 
He he hejaja lalalalalalala
 
Wenn am Abend in den Gärten
Sich die Wolken zart lila verdichten
Kommen aus den toten Köpfen
Diese krausen und kranken Geschichten
 
Und die Großen auf den Bergen
Jagten mit Lawinen ihn
Und die Dampfer auf den Meeren
Sahen ihn nach Kairo ziehn
 
Und die Sphinx in seinem Rücken
Ließ zwar seine Haut schneeweiß
Doch verfolgt von ihren Blicken
Lief zuletzt er nur im Kreis
 
He he hejaja Lalalalalalala
 
Wenn am Abend in den Gärten
Sich die Toten ein Stelldichein geben
Fangen alle alten Dinge
An zu sprechen und wieder zu leben
 
Und die Orgeln in den Kirchen
Spielten alle immer mit
Zwei Schritt vorwärts zwei Schritt rückwärts
Sysiphus auf Schritt und Tritt
 
Und die Bauern in den Stuben
Schlürften ihre Teller leer
Und die Mägde auf den Dielen
Zeigten Grübchen und noch mehr
 
Und die Fiedler auf den Straßen
Spielten sich die Finger lahm
Bis der Tod sich eines Tages
Selber eine Fiedel nahm
 
Und er lief noch durch die Felder
Sah von weitem schon das Haus
Doch dann brach er tot zusammen
Und sie trugen ihn ins Haus
 
He he hejaja Lalalalalalala
 
Und da liegt er schon seit Tagen
Ohne Atem und ohne Licht
Man besichtigt seine Narben
Seine Seele die sieht man noch nicht
 
Und die Toten in den Gärten
Sie versuchen ihm jetzt zu beschreiben
Daß die Freude und die Trauer
Immer schön in der Schwebe bleiben
 
Und die Kinder auf der Erde
Singen heut noch dieses Lied
Von dem was war was ist und sein wird
Doch da ist kein Unterschied
 
Und so ist auch dieses Lied hier
Nur ein Bruchstück von Küste zu Küste
Denn es kann schon morgen wahr sein
Daß ein andrer es singen müßte
 
He he hejaja Lalalalalalala . . .
 
 
1973


© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus dem Band "Den möcht´ ich seh´n..." in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung