Schreiben in der Metropole Ruhr

Eine Anthologie der "jungen Schriftstellergeneration"

von Jürgen Kasten
Schreiben in der Metropole Ruhr
Autoren nach 1945

Volker W. Degener / Hugo Ernst Käufer (Hrsg.)
 

Der Klartext-Verlag konzentriert sein Programm auf Ruhr-Literatur, von Prosa über Lyrik, Sachbuch, Fotobände, bis hin zu historischen Abhandlungen. Anläßlich des Mammutprojekts „Ruhr.2010“ versammelten die Herausgeber in dieser Anthologie 48 Autoren und Autorinnen aus der Region, die sich mit Kurzgeschichten, Gedichten,
Erzählungen aus fernen Ländern, gar Poetry-Slam und anderen Wortgebilden vorstellen. Dabei stellen sie die hier versammelte „junge Schriftstellergeneration“ heraus, allesamt nach 1945 geboren, deren Themenvielfalt sich nicht mehr oder noch nicht auf die „Arbeitswelt“, „Emanzipation“ oder „Integration“ bezieht. Heute werden andere gesellschaftlich relevante Motive verarbeitet. Eine prägende Rolle spielt dabei die Kriminalerzählung, mit der auch gesellschaftliche und politische Fragen, oft im Ruhrgebiet angesiedelt, thematisiert werden.
 
Ausführliche bibliografische Daten sind den jeweiligen Präsentationen vorangestellt. Dabei fällt auf, daß viele Autoren sich neben ihren anderen Arbeiten der Kinderliteratur verpflichtet fühlen, bzw. entsprechende Kinderserien im Fernsehen oder Hörfunk mit Texten beliefern. Der im Ruhrgebiet verbreitete Humor scheint für die kindliche Seele besonders empfänglich zu sein.
Doch was erwartet nun den Leser in diesem innovativen Leseband?
Die Geschichte eines Kindes zum Beispiel („Kinderspiel“ von Ulrich Breitbach): Das Kind war nicht gewollt, doch nun ist es da. Vater und Mutter sind sehr fromm. Sie erzählen viel über den lieben Gott und beten mit dem Kind. Der Vater kommt spät nach Hause und riecht nach Bier. Wenn das Kind im Bett liegt, hört es die Mutter schreien. Das Kind hat Angst, sagt es aber nicht. Die Eltern sollen es nicht erfahren. Manchmal ist der Vater lustig, manchmal zornig. Das Kind will einmal sein wie der Vater. Manchmal weint es…
 
Zum anderen eine satirische Klinikszene von Sigi Domke („Klinik unter Stress“): Lipinsky wird mit Infarkt in die Notaufnahme eingeliefert. Dort herrscht das Chaos. Mitten drin Lipinsky. Er hat keine Zeit für einen Herzkasper und muß sich doch neben dem privaten Gezänk des Personals noch ständig Ehefrau Lilos Jammerei anhören:  „Hat nie seine Tabletten genommen“. Ja so isses. Soll man lachen oder weinen? Einfach köstlich. Man kann sich gut vorstellen, daß Domke auch für „Herbert Knebel“ schreibt.
 
Kristina Dunker versucht in „Der Autobahnsprint“ einen verirrten Schwan vom Mittelstreifen zu retten. Es endet im Chaos. Birgit Fiolka erzählt die traurige Geschichte eines Mädchens, das von der Mutter an ein Bordell verkauft wird („Die Hetäre – 50 Drachmen für eine Kindheit“). Joachim Friedrich versetzt die Bremer Stadtmusikanten nach Bottrop: „Etwas Besseres als vor Langeweile zu sterben finde ich überall“, überredet Theo die Taube Gleichgesinnte zum Mitkommen („Die Bottroper Stadtmusikanten). Marion Gay präsentiert einige Gedichte, unter anderem „Der Igel stinkt nicht“: „Wie eine Kindermütze liegt er im Gras, / die gelb-braunen Stacheln zum Mecki gekämmt…“.
Frank Goosen, bekannt geworden mit „Tresenlesen“, erzählt die Geschichte von Dannemann. Mit eben dieser steht der jeden Abend am Tresen. Großzügig schmeißt er Lokalrunden. Ganz schön reich muß er sein. Doch der Junge, der hier als Erzähler fungiert, weiß es besser. Durch das Küchenfenster hat er Dannemann beobachtet, sieht ihn ein Wurstbrot essen. Aus dem Mülleimer der Nachbarn hatte er die Wurstscheibe gekramt, sorgfältig den Schimmel abgekratzt („Dannemann, geh du voran!“).
 
Reinhard Junge läßt seinen Kommissar Lohkamp den Mord an einem notorischen Schürzenjäger aufklären („Eberhard wird nicht erwischt“). Ulrich Land nervt die bombastische Weihnachtsbeleuchtung an der Bürofassade gegenüber seinem Fenster. Überdies ist inmitten dieses grellen Lichtteppichs eine Glühbirne defekt. Er beschließt sie abzuknipsen und hangelt sich zur 5. oder 6. Etage an der Fassade hinauf. Das Fiasko beginnt („Mehr Lichtermeer“). Greta Granderath, eine der ganz jungen Generation, 24 Jahre alt, verfaßt unter anderem Gedichte:
 „Wasserschaden“: „…Bierseligkeit legt sich aufs Brustbein / Ein Film von Lindenblüten bis der Himmel bricht…“
Edelgard Moers verstört mit einer Geschichte über die türkische Schülerin Nasimin, die Ärztin werden will. Doch kommt es anders. Nicht ihre Wünsche zählen, die Familie bestimmt („Verpasste Chance“). Der junge Poetry-Meister Sebastian Rabsahl läuft dem Leben hinterher („Mehr ist nicht“). Werner Streletz trauert mit dem Wirt einer alten Bahnhofskneipe um die gute alte Zeit und der Vergänglichkeit des gewesenen Gemütlichen („Letzte Durchsage“). Leonie Viola Thöne entführt traurig melancholisch in die Gedankenwelt eines depressiven Mädchens („Schwarze Löcher“).
 
Der vielseitige Altmeister Jürgen Völkert-Marten glänzt hier mit mehreren Gedichten.
„Stille“: „Dieser Winter frisst nur Marzipan, / An weißen Rändern franst Tannengrün….“
Wolfgang Welt, nach seinem erfolgreichen Erstlingswerk „Peggy Sue“ in der Versenkung verschwunden und vor einiger Zeit von der Süddeutschen als Nachtportier des Schauspielhauses Bochum wiederentdeckt und gewürdigt, schreibt wieder. Hier Erinnerungen an seine Fußballzeit. Als Linksaußen hatte er nicht viel zu tun, konnte also während des Spiels seinen Gedanken nachhängen. Die drehten sich ums Ficken. Mit seiner Realität hatte das nichts zu tun, umso heftiger dachte er daran („Die Spielzeit 1976/77“). Und, und, und - eine kleine subjektive Auswahl dieser unterhaltsamen und abwechslungsreichen Anthologie, die jedem aufs Nachttischchen gelegt sei, der wissen möchte, wie die Leute aus dem Pott so ticken.
Eine wirklich hervorragende Zusammenstellung zum selber Schmökern, Vorlesen oder Rezitieren.


Volker W. Degener / Hugo Ernst Käufer (Hg.) - "Schreiben in der Metropole Ruhr"
© 2009 Klartext-Verlag, 1. Auflage - Hardcover gebunden, 163 Seiten, 24,4x17 cm, ISBN: 978-3-8375-0084-4, € 17,95

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Redaktion: Frank Becker