Poesie und Horror

Christiane Neudecker - "Das siamesische Klavier"

von Jürgen Kasten
Etwas Unheimliches bahnt sich an...
 
Damit diesbezüglich keine Fragen im Raum stehen, die mich nur in meinem Loblied auf dieses Buch bremsen würden, sei erklärt, daß ein siamesisches Klavier natürlich ein gedoppeltes Klavier ist: „…alles ist gedoppelt: das Spielwerk, die Mechanik, die Stimmwirbel, die Saiten, die Tastatur. Nur der verwachsene Korpus und der gemeinsame Resonanzboden halten es zusammen.“

Ein solches Klavier wird mitten im Urwald gefunden, in einer verfallenen Villa, abseits jeder Zivilisation. Ein exzentrischer Baron ließ es dorthin schaffen. Jetzt liegt er skelettiert in seinem vermoderten Bett und seine bleichen Knochen weisen anklagend gegen das Klavier. Ein reicher Scheich läßt es bergen und in einem eigens erschaffenen Konzerthaus zum Klingen bringen. Die Romanows spielen es, die Neunte von Beethoven in der Bearbeitung von Liszt. Der Erzähler dieser Geschichte fungiert als Notenumblätterer auf der Seite der Madame Romanow. Ihr Spiel gefällt ihm nicht. Er plant ein perfides Spiel, doch das Klavier hat seine eigenen Vorstellungen…
 
Sieben Erzählungen vereint dieses Buch, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Eins haben sie alle gemeinsam: Spannung, getragen von unterschwelligem Horror, die einen gruseln läßt. Doch denken Sie jetzt bitte nicht an übliche Horrorgeschichten, das sind sie beileibe nicht. Selten habe ich eine so poetische Beschreibung eines erwachenden Sommermorgens gelesen, explodierende Fauna und Flora nach schwülen Regentagen. Dabei geht einem das Herz auf und stockt gleichermaßen, denn etwas Unheimliches bahnt sich an, ist latent ständig vorhanden und wird doch nicht wahrgenommen. Die Erzieher eines Kinderheims sträuben sich gegen das Unausweichliche. Die merkwürdigen Wesensänderungen ihrer Schützlinge verstehen sie nicht und ziehen falsche Schlüsse. So läuft alles auf eine Katastrophe hin und ist nicht mehr zu ändern…(„Gerufene Geister oder: Der Carpenter-Effekt“).
 
Die letzten Worte der soeben gelesenen Geschichte hallen noch im Kopf nach, da giert es einen schon nach der nächsten. Es ist faszinierend, wie Christiane Neudecker schreibt. Ihre Sätze lassen Bilder entstehen, die einem Film gleich dahin fließen, sich verdichten, plötzlich zerreißen, zurück springen, um mit neuer Wucht anzusetzen, die Spannung noch mehr steigern. Das ist wahrlich große Erzählkunst. Dabei trumpft die Autorin mit einem vielschichtigen Detailwissen auf, das erstaunen macht. Ganz gleich, ob sie über Musik und die Technik des Klavierspiels schreibt, über den Carpenter-Effekt, einen Free-Fight, das Seelenleiden eines schizophrenen Transsexuellen, eine raffinierte Abhandlung des Schach, gespielt gegen einen Toten, einen besessenen Fotografen, der ´Erkönige` jagt, oder einen Softwareexperten, dessen Schatten sich verselbständigt; alles klingt überzeugend. Da ich es nicht besser sagen kann, muß ich die FAZ zitieren: „Christiane Neudecker ist eine Meisterin der Atmosphäre“. Ihre Geschichten spielen in der Jetztzeit; ihre Figuren aber wandeln zwischen den Welten.
 
Christiane Neudecker, 35 Jahre jung, studierte Theaterregie und ist derzeit Regisseurin beim Berliner Künstlernetzwerk phase7 performing.arts. Für ihr bisheriges Schreiben erhielt sie bereits zahlreiche Auszeichnungen. Die Zukunft beschert uns hoffentlich weitere Bücher dieser Güte.

Redaktion: Frank Becker
Beispielbild


Christiane Neudecker
Das siamesische Klavier
 
© 2010 Luchterhand Literaturverlag, München
Gebunden mit Schutzumschlag, 224 Seiten, ISBN: 978-3-630-87313-8
€ 17,95 (D), € 18,50 (A), sFr 31,90 (CH)
 
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