Das Tunell

von Friederike Zelesko

Der Bahnhof von Rekawinkel - Foto © Matthias Vockathaler

Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen?
( Goethe)
 
Das Tunell*)
 
 
Wenn ich durch das Tunell fahre, verändere ich mich. Ich werde Kind. Niemand bemerkt es, nur ich. Der Zug und das Kind warten lange auf das Signal, das grüne Signal. Nur wenn das Signal grün ist, fahre ich durch das Tunell.
 
Einmal in der Woche verlasse ich die Stadt. Das Tunell am Bahnhof Rekawinkel liegt zwischen der Stadt und dem Land, zwischen Lärm und Erholung, zwischen mir und dem Kind. In Rekawinkel beginnt erneut eine Geburt. Jeder ist gebürtig, sagt der Standesbeamte. Er stempelt die Urkunde, trägt den Namen ein. Der Name ist der Beweis einer Existenz.
 
Auf dem Bahnhof in Rekawinkel gibt es keine Namen. Es ist ein Abholort und Abfahrtsort. Es ist ein Warteort von Veränderung und Bewegung. Es ist ein Ort der Ferne und Nähe zugleich. Dort wird abgefahren und angekommen. Es wird eingestiegen und ausgestiegen. Es wird umgestiegen und vorbeigefahren. Es wird gewartet. Der Bahnhof in Rekawinkel wird nur vorübergehend benutzt. Dort gibt es keine Existenz.
 
Unter dem Bahnhofsvordach schaukeln im Luftzug, zwischen den eisernen Bahnhofssäulen, Kästen an langen Ketten. Aus den Kästen beugen sich Blumen. Wenn ich mich aus dem Fenster meines Waggons beuge, sehe ich in das Tunell. Ein Luftzug kommt aus dem Tunell. Er berührt mein Gesicht, zerrt gleichzeitig an den Ketten der Blumenkästen und gibt dem Schaukeln immer wieder einen neuen Stoß.
 
Der unterirdische Gang wurde schon vor meiner Geburt durch den Bergleib gebohrt. Er stellt jetzt eine Verbindung her. Das Kind und ich sitzen im Zug. Das Signal ist grün.
 
 
*) Tunell  = südd., österr. schweiz. für Tunnel



© Friederike Zelesko - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010
Veröffentlichung des Fotos mit freundlicher Genehmigung von Matthias Vockathaler - www.vockathaler.net