Vor dem Gewesensein oder Der Balanceakt der Fotokunst

Vortrag, gehalten am 26.5.2007 zur Eröffnung der Ausstellung "Absage an die Wirklichkeit. Subjektive Positionen zeigenössischer Fotografie"

von Andreas Steffens

Vor dem Gewesensein oder
Der Balanceakt der Fotokunst

Vortrag von Andreas Steffens, gehalten zur Eröffnung der Ausstellung
"Absage an die Wirklichkeit.
Subjektive Positionen zeitgenössischer Fotografie"
Mecklenburgisches Künstlerhaus Schloß Plüschow, 26.05.2007



Jedes Foto ist ein Schreckensbild.


Denn es macht etwas sichtbar, was kein Auge je zu sehen bekommt. Das begründet seine Magie. Das ist sein Zauber und sein Fluch. Es öffnet Einblicke in ein Sein, dem niemand von angesicht zu angesicht begegnen wird.
Das ist keine Frage des Sujets. Es gründet im Hyperrealismus der technischen Apparatur, die das Bild erstellt. Das Auge sieht anders. Weniger scharf, weniger gebannt. Wer ein Foto betrachtet, macht die Erfahrung, in der sich die Erfahrung des Seins verdichtet: etwas ausgesetzt zu sein, worüber man nicht verfügen kann, das vielmehr über einen verfügt. Unser Leben spielt sich in einem Medium ab, das wir zwar benutzen, dessen objektive Teile wir jedoch ungleich stärker sind als die Subjekte, die es sich für ihre Lebenszwecke zunutze machen, für die wir uns halten.
Der Grenzwert dieses Ausgeliefertseins an das, was uns möglich macht, ist das äußerste Rätsel des Lebens, das an jedem Lebensende wartet.

Von einem Hotel in einem Bergstädtchen aus, in dem wir ein Zimmer mit Terrasse und Bett und einer arkadischen Aussicht finden, unternehmen wir Tagesausflüge nach Verona und Vicenca. Fotos, Fotos, Fotos und nochmals Fotos. Was ist das Gegenteil von Einen Nagel In Einen Sarg Treiben? Nun, das jedenfalls ist es, was ich empfinde, wenn ich Claires Fotoapparat klicken und immer wieder klicken höre (Roth, Begierde, 202).


Jedes Foto handelt vom Tod. Vom Tod als der Bedingung des Lebens.


Das Foto ist indiskret. An jedem Portrait, an jedem Bild, auf dem Personen zu sehen sind, wird das deutlich. Zwar bietet das Bild dem, den es zeigt, die Bestätigung seines Seins und seiner Erheblichkeit, er ist es wert, gesehen worden zu sein; aber das Gesehenwordensein ist zugleich Enthüllung: das Bild, das es aller Welt zeigt, gibt einen der Unverborgenheit preis.
Was Jean Starobinski in einer frühen Studie über die Figuren der Dramen Racines sagte, gilt für den Betrachter des Fotos in zugespitzter Weise.

Der Akt des Sehens, in all seiner besitzergreifenden Gewalt, beherbergt die Schwäche und das Bewusstsein der Schwäche. Umgekehrt bedeutet das Gesehenwerden fast im gleichen Augenblick, sich als schuldig zu entdecken, in den Augen der andern. Was die Personen von Racine erwarten, ist der liebkosende Blick, sanfte, liebende Umhüllung; was sie in Wahrheit erfahren, ist ihre eigene Schuldigkeit. Nicht das Glück, betrachtet zu werden, sondern das Unglück, in der Verfehlung gesehen zu werden  (Starobinski, Augen, 64).
Und so, wie man ertappt wurde, wird man bleiben, für die, die einen zu sehen bekommen werden – nicht gerade auf ‚ewig’, aber doch für die Dauer der Existenz dieses Fotos.
Aus dem Foto richtet sich der Blick der Allmacht auf seinen Betrachter, die Adam sich in den Schutz des Baumes ducken ließ, von dem er verbotenerweise gekostet hatte.

Jedesmal entsteht die Schuldhaftigkeit der Personen unter dem übergeordneten Blick dieses Zeugen, oder eher: dieses transzendenten Richters. Alle Blicke, welche die menschlichen Helden austauschen, werden von jenem unerbittlich spionierenden Auge beobachtet, das verdammt und verurteilt. Solange sie beschäftigt sind, ihre Leidenschaften zu befriedigen, vermeinen sie, dem Kollektiv, der Sonne, Gott sich entziehen zu können; sie versuchen, den anklagenden Blick zu fliehen. Doch nach kürzerem oder längerem Aufschub holt er sie ein (Starobinski, Augen, 64 f.). Mit jedem Foto aufs neue.
Mehr noch: das Foto lässt seinen Betrachter nicht nur einen anklagenden Blick sehen; er schaut in einen Blick, der ihn verwirft. Auslöscht. Denn die Kamera, die gesehen hat, was er als Bild nun sieht, sieht nicht wie ein Mensch. Aber was sie zeigt, wird vom Menschen gesehen, als wäre es das, um dessen Ansichtigkeit er sich mit seinen Augen zu bemühen hat. Als Bild der Wirklichkeit betrachtet, ist das Foto eine Maschine, die die Wirklichkeit vor dem Menschen unendlich hertreibt, und ihm, der hinterhereilt, keine Chance lässt, sie je einzuholen.
Diese Dynamik sah Roland Barthes sich in der journalistischen Dokumentenjagd zu der Gefahr zuspitzen, dass das Bild den Tod hervorbringt, indem es das Leben aufbewahren will (Barthes, 103). Denn schon in dem Moment nach seiner Anfertigung gibt es nicht mehr, was das Foto zeigt.
Deshalb sind Fotografen agile Menschen, führen sie oft ein Leben unterwegs, Sesshaftigkeit auf Dauer ist der wenigsten Sache. Dem Eigenen auf der Spur, setzen sie sich der Fremdheit aus, die sich mit jedem Ortswechsel, mit jeder neuen Perspektive wiederherstellt, um im Übergang zur nächsten Situation bewältigt zu werden.


Diese Dynamik wird in Thanh Longs Arbeit zum ästhetischen Formgesetz. Nicht nur als Sujet ist die Bewegung von Fremdheit zu Fremdheit in ihr gegenwärtig; auch in den präzisen Kompositionen, mit denen er seine Einblicke in eigene und fremde Situationen zu Arrangements von Lebenselementen ent-fremdet.
Ersetzt man den mythischen Begriff der ‚Schuld’ durch den der ‚Wirklichkeit’, so offenbart jene doppelte Verwerfung, welche ontologische Beziehung das Foto herstellt. Die mythische ‚Schuldhaftigkeit’ steht für die anthropologische Unfähigkeit, der Wirklichkeit zu genügen. Kein Mensch ist je mit ihr fertig geworden. Hat auch nur ergründen können, mit welchen Herausforderungen sie ihn wirklich konfrontiert. Erfahrung der Wirklichkeit ist immer eine Erfahrung der Überwältigung und des Unterliegens. Wirklichkeit ist das, was stärker ist als alles, worüber ein Mensch verfügen kann, stärker als alles, was ein Mensch vermag. Sie ist das Entzogene, und zugleich unübergehbar das stets Gegenwärtige, mit dem alles Leben zu rechnen hat.
Was könnte da wichtiger und willkommener sein, als eine verbindliche Auskunft darüber, worin genau die Verbindlichkeiten der Wirklichkeit liegen? Seit ihrer Erfindung ist die Fotografie als dieses Medium wahrgenommen worden, und wird es werden, solange es sie geben wird. Seit ihre ersten Betrachter an ihr, wie Alexander von Humboldt, der in der Sitzung anwesend war, in der Louis Daguerre 1839 seine Erfindung in der Pariser Académie des Sciences vorstellte, am meisten die unnachahmliche Treue bewunderten, mit der sie das Abgebildete wiedergegeben fanden (Hörisch, 136).


Trifft diese scheinhafte Wirklichkeitsverbürgung im Bild auf die Symbole, mit denen eine Kultur sich ihre Verbindlichkeiten gegenwärtig hält, so entsteht ein Spannungsfeld, dessen Pole die Erwartung und die Verpflichtung bilden, sich verlässlich in der Welt zu orientieren. In diesem Feld siedelt Michael Strauss seine Arbeit an. Er erkundet die formalen Aspekte einer Nach-Bildung der Bilder, die wir als kulturelle Ikonen in unserer unbewussten Imago mitführen, auf die wir als autoritäre Leitbilder in beinahe vollkommener Bewusstlosigkeit reagieren, sobald sie evoziert werden. Durch distanzierende Manipulation unserer manipulativen Allerweltsbilder, die sich der Bildsprache unserer nahezu vergessenen spirituellen und religiösen Urbilder bedienen, sucht er einen Freiraum eigener Wahrnehmung zu gewinnen.
Der Preis, um den ein Foto etwas Bewahrenswertes festhält, ist der, dass es im selben Moment, in dem es entsteht, auch feststellt, was es zu sehen gibt: es zeigt die lebendige Gegenwart im Zustand jener Todes-Erstarrung, vor deren Endgültigkeit seine Anfertigung doch bewahren soll.
Diese Doppeldeutigkeit, der nicht zu entkommen ist, bezeichnet die Grenze, an der jedes Foto angesiedelt ist, mag es zeigen, was es will: die Winzigkeit des Übergangs zwischen Leben und Tod. Zwischen Sein und Gewesensein. Der Augenblick, den wir ein Foto betrachtend sehen, ist lange vergangen, wenn wir es betrachten. Vergangen schon in dem Moment, in dem die Technik der Kamera, die Chemie in der Dunkelkammer ihr Werk getan haben.


Fotos nehmen dem Wirklichen bei lebendigem Leib die Totenmaske ab.


Darin gründet die enorme Verantwortung des Fotografen. Sie ist von anthropologischer Dimension. Sie ist dafür verantwortlich, dass die Fotografie als Kunst ein sehr gefährliches Gebiet ist, wie Walter Benjamin, Sasha Stone zitierend, betonte (Benjamin, Kleine Geschichte, 62).
Die Haltung, die die >Absage<-Fotografen miteinander verbindet, lässt sie diese Verantwortung wahrnehmen, indem sie statt Abbildungen der Situation, die das Foto zeigen wird, Kommentare dieser Situation herstellen.
Dazu bedarf es der reflektierenden Vorhersicht. Bevor der Fotograf sein Bild macht, muß er anstelle dessen, was es zeigen wird, bereits gesehen haben, wie es sein Sujet zeigen wird: er muß konstruieren, was sich ihm in der Unendlichkeit optischer Präsenz der Welt darbietet.

Das Sehen ist nicht die Metamorphose der Dinge in ihr Gesehenwerden, die doppelte Zugehörigkeit der Dinge zur Welt im Großen und zu einer kleinen, persönlichen Welt. Es ist vielmehr ein Denken, das streng die im Körper gegebenen Zeichen entziffert. Die Ähnlichkeit ist das Ergebnis der Wahrnehmung, nicht deren Wirkmittel (Merleau-Ponty, Auge, 24).
In diesem sehenden Denken, im denkenden Sehen vollzieht sich, wird es bildnerisch, ein Unterlaufen der Eindeutigkeit, mit der unsere Alltagswahrnehmung rechnet. Dieses Unterlaufen der Erwartung und der Vertrautheit ist das Scharnier zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen Dasein und Welt.
Beeindruckend setzt Katrin Amft dieses Scharnier ins Bild, wenn sie das konturenscharfe Grau eines technischen Geräts vor das unscharf verlaufende farbige Spiegelbild setzt, das die Fassade wirft, an dem das Gerät installiert ist. So genaue Gegensätze Klarheit und Unschärfe sind, so untrennbar gehören sie als die Pole zusammen, deren Spannung die Bewegungen unserer Wahrnehmung in Gang halten.
Das Subjekt kann nur genau so objektiv sein, wie es sich der Subjektivität seiner Beziehungen zum Objekt anvertraut: je intensiver dessen Wahrnehmung, desto mehr wird es sich dem Subjekt, das von ihm getrennt ist, zeigen.
Die Neugierde, mehr wahrnehmen zu wollen, die aus der Bildkunst Bereicherungen unserer Welt hervorgehen lässt, hebt die Selbstverständlichkeiten unserer lebensweltlichen Kenntnisse auf, der Dinge, ihrer Beziehungen, unserer selbst.
Diese Aussetzung des Vertrauten setzt eine meditative Haltung zu den Dingen voraus, die Kunst der Geduld, der Insistenz des Blicks, eine Unverwandtheit der Anschauung, die so lange hinsehen lässt, bis die Vertrautheit der Dinge ins Flirrren gerät, und sich von ihnen löst, wie ein Schleier, der gehoben wird, wie ein Nebel, der sich verzieht, und die Dinge beginnen, Eindrücke von ihrem Eigensein zu gewähren - : dann ist es Zeit für das Bild.
Die Übergangsmomente zwischen Auftauchen und Verschwinden, zwischen Finden und Verlieren erkundet Marc Grümmert, indem er eine Virtuosität der Unschärfe entwickelt, die zeigt, indem sie verbirgt, und die Aufmerksamkeit sich dort konzentrieren lässt, wo die Erwartung der Eindeutigkeit enttäuscht wird. Das betrifft nicht nur die Dinge, sondern gerade auch die Wahrnehmung der Person: das (Selbst-)Portrait, das keinen Gesichtszug wirklich genau erkennen lässt, schärft den äußeren Blick so sehr, dass die Enttäuschung über seine Unvollkommenheit ihn sich nach innen kehren und als Vision hervortreten lässt, was ungezeigt bleibt. Am intensivsten erfahren wir uns, wenn wir uns an etwas überlassen, das wir nicht kennen, wovon wir aber genau wissen, dass es uns angeht.

Am berührendsten und in seinem Geheimnis am verstörendsten ist das Erscheinen und Verschwinden einer Person im Wahrnehmungsfeld der gemeinsamen Welt. Die darin angelegte Spannung zwischen Erwartung und zur Enttäuschung verurteilter Sehnsucht setzt Tim Kellner ins Bild. Formal bedient er sich des Landschaftsbildes; ihrem Gehalt nach geht es in seinen - nur auf den ersten Blick noch dem realistischen Modell verpflichteten - Fotos um die Übertragung und Durchdringung von Bildgesten kultureller Bedeutungen. Hinter jener Profanität lauert ein mythischer Anspruch, in jedem Ding, hinter jeder kulturellen Form steckt ein Geist. Darin sind sich so weit entlegene, miteinander in keiner Weise verbundene Kulturen wie die des christlichen Europa und die der australischen Ureinwohner gleich. Kellner zeigt es, indem er dem Bild eines ihrer heiligen Berge die Form des christlichen Triptychons gibt. Aus der Entfernung aufgenommen, die dem Achtungsgebot entspricht, das dem Ort innewohnt, zeigt das Bild den Berg, wie er seit Jahrhunderten unter dem numinosen Schauer des ungreifbar Göttlichen angesehen worden sein muß. Das Bild überträgt auf seinen Betrachter die Aura des verehrenden Angesehenwerdens.
Das Ausbleiben von Eindeutigkeit kann Unbehagen bereiten, und für viele Menschen ist es eine Quelle der Angst. Heidi Schneekloth setzt sich dieser Unsicherheit bewusst aus, indem sie sich von ihr in die Sphären der Verwunschenheit, der Metamorphosen und der Entrückungen in Übermenschliches entführen lässt. In ihren neuen Arbeiten geschieht das als ein Erspüren der Verwandlungsenergien, von denen die indische Mythologie geprägt ist. Auch hier ermöglicht das Paradox einer präzisen Unschärfe den Bildzugriff im richtigen Moment. Er ist erreicht, wenn das Bild, das in ihm entsteht, die Faszination des Geheimnisvollen und des unauflösbar Rätselhaften als Verheißung statt als Bedrohung spürbar werden lässt.

Die Fähigkeit des Fotos, festzuhalten, drängt ihm geradezu die vitale Funktion auf, eine optische Brücke zu schlagen zwischen Sein und Gewesensein des Menschen.
Jedes Portrait-Foto sagt: ich halte dich fest, in diesem Moment, denn du bist zum Tod verurteilt; aber diesen Moment, in den ich dein Dasein banne, kann er nicht vernichten; diesen Moment wird es solange geben, wie es mich gibt. Deshalb ist es gerade kein Akt der Zerstörung, sondern der Schonung, wenn Janet Zeugner in der neuesten Arbeit ihrer Erinnerungs-Studie >Spiegel der Erinnerungen< das Gesicht ungezeigt lässt.
Der Preis des Überdauerns liegt darin, das Existierende als das Vergängliche, das zum Vergehen Bestimmte, zu behandeln. Das Erstarren des Fotos überspringt die Erstarrung des Todes. So ist die Arbeit des Fotografen eine Arbeit an der Vorsorge für Nachexistenz.
1944 notierte der Schriftsteller Emil Barth einen Werbespruch jener Tage in sein Tagebuch, dessen Absurdität ihm besonders auffiel: „Wer photographiert, lebt doppelt!“ (Barth, Lemuria, 133). Wer in der Absicht, aufzubewahren, fotografiert, der stirbt öfter. Die privaten Fotoalben sind Beinhäuser einer Erinnerung, die es nicht geben wird. Sie muß nachgeholt werden. In den seltensten Fällen geschieht das durch diejenigen, für die die Hinterlassenschaften an Lebensbilddokumenten angelegt wurden. Es bedarf des fremden Blickes, um vergangenen Leben oder vergangenen Lebensmomenten jene Lebendigkeit der Ansichtigkeit ganz zu geben, die ihre Anfertigung motivierte. Dieser Arbeit widmet Janet Zeugner ihre experimentelle fotochemische Malerei, mit der sie sich am weitesten von der klassischen Apparatefotografie entfernt.
1982 erschien das berühmteste der ungeschriebenen Bücher des 20. Jahrhunderts, Walter Benjamins >Passagen-Werk<, für unsere Generation ein intellektuelles Ereignis ersten Ranges. Lange für verschollen gehalten, war es in der Pariser Bibliothèque Nationale wiederentdeckt worden, wo Georges Bataille es vor der Gestapo so gut versteckt hatte, dass es vergessen wurde. Im Zentrum dieser aus Exzerpten, Notizen und Kurzessays gefügten Geschichtsphilosophie der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts steht eine fortlaufende Meditation über Charles Baudelaire.
Dessen Poesie und Benjamins Idee der Passage im Kopf, zog Knut Maron einige Jahre später durch den Untergrund des nächtlichen Paris, und traf auf eine Welt der Formen und Atmosphären, der Farben und Bewegungen, in denen die Visionen Baudelaires Nacht für Nacht wiedererstehen:


Der Babel Treppen und Arkaden:
Ein unermeßlicher Palast
Mit reichen Brunnen und Kaskaden
Von mattem Gold, von goldnem Glast;


Und Wasserstürze nimmer endend,
Gleich einem Vorhang aus Kristall,
Ergossen sich hernieder blendend
An der metallnen Wände Fall.


Oder diese:

Da waren nie erschaute Steine
Und magisch dunkle Flut; und klar
Ein Meer aus Eis, von hehrer Reine,
Von Spiegelung geblendet war!


(...).


Und alles, selbst die düstren Farben,
Schien dort zu funkeln, hell und tief;
Die Fluten schossen stolze Garben,
Darin das Licht kristallen schlief.


Kein Stern war da und keine Spuren
Der Sonne fern am Horizont
Als Leuchte in den Zauberfluren,
Vom eignen Flammenschein besonnt!


Und über dieser Welt verloren
Kreist (neuer Schrecken weit und breit:
Dem Auge alles, nichts den Ohren!)
Ein Schweigen tiefer Ewigkeit.


(Baudelaire, Rève Parisien, Blumen, 332 f.)



In Marons Fotos wird man jedes Wort aus diesem >Pariser Traum< Baudelaires wiederfinden, und doch keine literarische Illustration zu sehen bekommen. Sie gehorchen einem strengen Konstruktionsprinzip, das die Gegebenheiten der Wirklichkeit in Requisiten ihrer Wahrnehmung verwandelt, indem der Blick sie zu Strukturen fügt, in denen eine verborgene Ordnung des Wirklichen hervortritt, wie es nur in der freien Stille der Nacht geschieht, in der die Dinge, müde ihrer Funktionalität, sich einem einfachen Sein überlassen, unbekümmert um den Eindruck, den sie erwecken. In strengsten geometrischen Figurationen, illuminiert von einem Licht, das nicht von dieser Welt ist, führen diese Bilder immer wieder bis kurz vor den Eingang zu Dantes Inferno.
In einem der schönsten Stücke poetischer Metaphysik, >Über das Marionettentheater<, hat Heinrich von Kleist das Urproblem der menschlichen Weltbeziehung anhand einer Meditation des Tanzes dargestellt: als Ursache des Verlustes der ursprünglichen paradiesischen Welt ist es die innerste Bestimmung der Erkenntnis als des menschlichen Daseinsgrundes, sich selbst aufzuheben, um in den Ursprung der Welt zurückkehren zu können. So, wie die Anmut des Tänzers von keiner Überlegung erreicht werden kann, sondern ausschließlich durch selbstvergessene Versunkenheit in den organischen Ausdruck des reinen Körper-Seins entsteht.
Darauf bezieht sich das bildnerische Vor-Denken Janet Riedels, das ihr die Kamera in ihren Studien zum Tanz führt. Neben dem Portrait und der Landschaft gehört die Bewegung zu den frühesten Faszinationen der Fotografie. In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts führte sie zu einem Entwicklungsschub in der Kameratechnik, als E. J. Muybridge seinen ganzen ästhetischen und technischen Ehrgeiz daran setzte, den Bewegungsablauf eines galloppierenden Pferdes festzuhalten (Newhall, Geschichte, 121 ff.). Auch Janet Riedel setzt sich der Bewegung buchstäblich auf die Spur, in jenen Momenten, in denen die tanzenden Körper sich in ihrer Wahrnehmung auf der Grenze zwischen Erscheinen und Verschwinden bewegen. Ihre Bilder erhaschen den Moment kurz bevor die Geschwindigkeit der Nachbewegung des Blicks auf die Tänzer in deren Unsichtbarkeit umschlägt.

Den Schlüssel zu dem rätselhaften Gedanken, mit dem Kleist seine Überlegung schließt, dass wir nämlich noch einmal vom Baum der Erkenntnis essen müssten, um in den Stand der Unschuld zurückzukehren, hat er in seinem Hinweis auf das dritte Kapitel des 1. Buchs Moses gegeben. Dort heißt es: so werden eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. Die bekannten verheerenden Folgen des Sündenfalls, der das Menschenurpaar erkenntnisfähig machte, haben an dieser Stelle immer wieder übersehen lassen, dass sie die Urerkenntnis, aus der alle weiteren Erkenntnisse folgen, zu denen Menschen befähigt sind, als eine Leistung des Auges offenbart: so werden eure Augen aufgetan. Was wir wissen können, haben wir vom Sehen. Wir können erkennen, weil wir sehen können. Durch die erste aller Erkenntnisse sehend geworden, müssen wir sehen, um erkenntnisfähig zu bleiben.
Das aber heißt nichts geringeres, als dass die Bildkunst eine Form der Intelligenz ist.
Indem sie der Überzeugung folgen, dass kein Bild die Welt zeigt, sondern jedes vor Augen führt, dass es die Welt nur in einem unablässigen Prozeß ihrer ästhetischen Anverwandlung für uns, und für jeden einzelnen auf seine Art, gibt, bewähren die Fotografen der „Absage an die Wirklichkeit“ ihr Metier als eine intelligente Kunst.


Literatur:
Baudelaire, Charles, Die Blumen des Bösen. Kleine Gedichte in Prosa, München 1979


www.plueschow.de

Barthes, Roland, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie (1980), Ffm 1989
Benjamin, Walter, Kleine Geschichte der Photographie (1931), in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Ffm 1966, 45-64
Hörisch, Jochen, Eine Geschichte der Medien. Von der Oblate zum Internet, Ffm 2004
Merleau-Ponty, Maurice, Das Auge und der Geist, Reinbek 1967, Titelaufsatz, 13-43
Newhall, Beaumont, Geschichte der Photographie (Museum of Modern Art New York 1982), München 1984
Roth, Philip, Professor der Begierde. Roman (1977), München-Wien 1978; Reinbek 1998
Starobinski, Jean, Racine und die Poetik des Blickes (1954), in: ders., Das Leben der Augen (1961),  Ffm-Berlin-Wien 1984,  52-66


© Andreas Steffens - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007



17.05.–24.06.

Baumhaus, Wismar 19.05-10.06.

Eröffnung: Sa. 26.05. um 16.00 Uhr

Schloss Plüschow 27.05.-24.06.

Eröffnung: Sa. 26.05. um 17.30 Uhr


Weitere Informationen unter: www.plueschow.de und: www.absageandiewirklichkeit.de