Die Mutter muß ins Altenheim

Erfahrungsbericht eines Sohnes

von Niels Höpfner
Die Mutter muß ins Altenheim
 
Erfahrungsbericht eines Sohnes.
Von Niels Höpfner


An einem Sonntag liegt die 83-jährige Mutter wie ein gestrandeter Wal im Bett. Dem Sohn, der sie zur Toilette führen will, entgleitet sie auf den Boden. Feuerwehr. Rettungswagen. Diagnose im Krankenhaus: Lungenentzündung. Dank tadelloser und bewundernswerter ärztlicher Kunst ist die Mutter in zwölf Tagen kuriert. Und dann beginnt das Drama.
 
Die letzten beiden Jahre hatte die Mutter in ihrer Wohnung noch allein gewirtschaftet mit Hilfe eines mobilen Pflegedienstes, der ihr morgens beim Waschen half: Pflegeversicherung, Stufe 1. Der Sohn erledigte die Einkäufe; es gab eine Putzfrau; Friseurin und Pediküre kamen ins Haus. Das alles reicht nun nicht mehr: die Mutter muß in ein Altenheim.
Urplötzlich ist die Situation da, vorher war mit der Mutter nicht darüber zu reden – welcher alte Mensch verdrängt sie nicht, sondern plant schon gern, umsichtig und früh, seinen Einzug in ein Altenheim?
In jedem Krankenhaus gibt es einen Sozialarbeiter, der für solche Probleme zuständig ist. Auch im Krankenhaus der Mutter. Der Mann ist ein äußerst freundlicher Mensch und äußerst unfähig. Er überreicht dem Sohn eine Liste mit den ungefähr 50 Altenheimen, die es in und um Köln herum gibt. Diese Liste hätte sich der Sohn auch selbst aus dem Internet ziehen können.
Der Sohn empfindet es als Skandal, daß es in einer Großstadt wie Köln (und sicher auch woanders) keine Datenbank gibt, die sämtliche freien Heimplätze auflistet und gleichzeitig ein Ranking von Altenheimen anbietet. (Warum eigentlich sollen diese vom Wettbewerb ausgeschlossen bleiben? Neben den humanitären geht es doch um knallharte wirtschaftliche Interessen.) Wir leben längst nicht mehr in der Vor-Computer-Zeit, und hier besteht dringender Handlungsbedarf: eine ernste Aufforderung an die Träger von Altenheimen, aber auch an Politiker, sich in dieser Angelegenheit zu engagieren.
Es soll schon ein Einzelzimmer für die Mutter sein, mit eigener „Naßzelle“. Der äußerst freundliche Sozialarbeiter gibt dem Sohn noch einen heißen Tip: Draußen vor den Toren der Stadt, im Grünen, gebe es ein Heim, in dem Einzelzimmer frei seien.
 
Wenn es denn so wäre, nähme der Sohn auch gern einen Besuchsweg von 45 Minuten in Kauf. Doch der Sohn findet einen sehr grünen Friedhof für noch lebende Leichen vor: alte Menschen abgeschoben an den äußersten Stadtrand – ein absurdes menschenverachtendes Altenverwahrkonzept.
Die Besichtigungsdame ist gehetzt und genervt: gewiß wäre sie viel lieber Empfangschefin eines Luxushotels auf Mallorca. Ein leeres Einzelzimmer kann sie dem Sohn nicht zeigen, und vermutlich wird auch in nächster Zeit keines frei. „Wertsachen müssen die Bewohner unbedingt bei der Verwaltung deponieren. Hier wird alles geklaut.“ Solche Ehrlichkeit ehrt die Besichtigungsdame. Aber nicht dies: „Ihre Mutter ist zu dick fürs Bad.“ Die Mutter wiegt, bei einer Größe von 1,75m, 90 Kilo. Auch wenn das Bad aus vorsintflutlicher Zeit stammt, ließe sie sich dort durchaus hygienisch versorgen. Aber in Wirklichkeit geht es um etwas anderes: Der Sohn ist in die Vorstadt gelockt worden, um ihm für die Mutter einen Zweibettzimmerplatz zu verkaufen. Für 2.300 Euro pro Monat. Ein netter Batzen jährlich für den Etat des Heimes. In seiner hilflosen Verzweiflung sagt der Sohn zu.
Zwei Stunden später besucht der geschäftstüchtige Heimleiter die Mutter im Krankenhaus, um seine potenzielle Profitkuh zu taxieren. Der Sohn ist niemals in seinem Leben einem so widerwärtigen, impertinenten Menschen begegnet. Auf der Krankenhaustoilette muß er sich nach dem Gespräch vor Ekel erbrechen.
Nach Hause zurückgekehrt und wieder denkfähig, schickt er dem Heimleiter eine grobe E-Mail: Sehr geehrter Herr... – unser heutiges Gespräch im Krankenhaus fanden meine Mutter und ich so unerquicklich, daß ich Ihnen meine Mutter nicht mehr anvertrauen mag (oder besser: ausliefern kann). Bei Ihnen war keine Spur von Menschlichkeit vorhanden, nur blanker Zynismus. Sie selbst, fettleibig bis kurz vorm Platzen, halten meiner Mutter vor, einer Frau der Kriegsgeneration, zu dick zu sein... schämen Sie sich!
Durch einen glücklichen Zufall habe ich auf die Schnelle in Köln-Innenstadt ein Heim für meine Mutter mit einem Einzelzimmer inkl. komfortabler Naßzelle gefunden. In diesem Heim darf man so dick sein, wie man ist – und auf den Fluren stinkt es nicht nach Pisse.
Ich grüße Sie in Ihrer Nekropole, fassungslos über einen Altenheimleiter wie Sie.
 
In einem hat der Sohn übertrieben: er besitzt nicht die geringste Alternative. Und das Krankenhaus will die geheilte Mutter so schnell wie möglich loswerden, „aus Verantwortung gegenüber der Kasse“. Die Stationsärztin ist persönlich beleidigt, daß der Sohn das Angebot ihres äußerst freundlichen Sozialarbeiters nicht akzeptiert hat. Ein (nicht beweisbarer) Verdacht: Zahlt das Heim im Grünen Kopfprämien für eine Überweisung?
Es gäbe eine Notlösung: Dem Krankenhaus ist eine Abteilung für Kurzzeitpflege angeschlossen. Aber darum müsse sich der Sohn schon selbst kümmern. Die Stationsärztin, schön und blond und ehrgeizig und herzkalt: ganz wie in der Soap, putzt den Sohn, der altersmäßig ihr Vater sein könnte, runter wie einen Schuljungen. Der Herr Professor gibt den Halbgott in Weiß, die Realität übertrifft das Klischee. Selbst eine private Krankenhauszusatzversicherung schließt anscheinend den unzivilisierten Umgang mit Angehörigen von Patienten nicht aus.
Die Kurzzeitpflege-Station ist voll belegt. Als der Sohn verzweifelt der Leiterin die Notsituation schildert und ihr vom ärztlichen Fürsorgeverrat berichtet, ist sie empört und sagt: „Die sollen die Mutter am besten noch heute schicken, heute noch!“ Eine wunderbare Frau, die keinen anderen Beruf versäumt.
Es wird ein zweites Bett ins Zimmer von Frau Himmelstern gestellt, die eigentlich Schmitz heißt (Namen geändert). Die Mutter ist nun erst einmal versorgt, und der Sohn hat Zeit gewonnen. Auf dem Nachhauseweg bietet ihm ein altes Weiblein Einblick in die Einkaufstasche – in einem winzigen Käfig der Liebling, ein Hamster: „Der muß doch mindestens eine Stunde am Tag an die frische Luft!“
Der Sohn hängt sich ans Telefon und ruft ungefähr 20 Altenheime an. Vereinzelt Zweibettzimmer, wohl eher für den last exit. Aber soweit ist die Mutter glücklicherweise noch nicht. „Wir schicken Ihnen gern unseren Prospekt! Sie können Ihre Mutter vormerken lassen!“ Für kurz- oder langfristige Anmeldungen ist es längst zu spät.
 
Und dann ein positives Signal: ein Heim in der Innenstadt hat ein Einzelzimmer frei. Der Sohn wirft sich ins Taxi. Das Stift macht einen guten Eindruck: weißgedeckter Speisesaal. Die Alten in der Lobby wirken gepflegt – auch wenn sie an traurige Vögel erinnern, die warten. Auf was? Auf die nächste Mahlzeit oder auf den Tod?
Die Heimzeigerin ist freundlich und geduldig: vertrauenerweckend. Und dann das Zimmer: ca. 9 m² (jeder Knacki hierzulande oder jeder deutsche Schäferhund vegetiert besser), ein Pflegebett, ein Riesenschrank aus den 70er-Jahren, ein Waschbecken aus den 60ern, schmuddelige Gardinen, ein transportabler Kackstuhl. Platz wäre gerade noch für einen Fernseher. Gewaschen und geduscht wird in einem modernen Etagenbad. „Wenn ein besseres Zimmer frei wird, kann Ihre Mutter selbstverständlich wechseln.“ 2.300 Euro pro Monat. Der Sohn sagt zu – nun in absoluter Not: die mögliche Zeit in der Kurzzeitpflege läuft ab – und nimmt sich vor, die Mutter spätestens in einem Monat aus dem Kabuff herauszuholen. Die Kammer zerreißt ihm fast das Herz und würde es der Mutter gewiß brechen. Hier legen nur Kinder, die sich für eine schlechte Kindheit oder Jugend rächen wollen, ihren greisen Vater oder ihre greise Mutter ab. Ein Foto des Zimmerchens auf Seite eins von einem Boulevardblatt wäre ein perfekter Sommerskandal, aber der Sohn mag das Heim nicht denunzieren, denn man zeigte sich dort hilfsbereit und freundlich.
 
Der Sohn ist mit den Nerven fast am Ende. Essen kriegt er kaum noch runter, schon morgens steht ihm der Magen bis zum Hals. Der Weißweinkonsum steigt auf drei Flaschen täglich (eine Art Mayr-Diät, mit fünf Kilo Gewichtsverlust, was ja nicht uncharmant ist), Valium 10 kommt noch hinzu (wenig später wird das Dreckszeug dort landen, wo es hingehört: im Müll). Der Sohn telefoniert weiter.
Köln, das „hillige Köln“, ist dafür bekannt, daß sich hier, selbst heute noch, bisweilen mittlere oder kleine Wunder ereignen. Und es geschieht also: Nach einem glücklichen Telefonat kann das 9 m2-Kabuff storniert werden. Der Sohn hat nach dreiwöchiger hektischer Aktion für die Mutter in der City in einer ruhigen Seitenstraße ein fabelhaftes Altenheim gefunden, mit 99 Apartments insgesamt, das einem 3-Sterne-Hotel gleicht, eine Viertelstunde von der eigenen Wohnung entfernt. Das Einzelzimmer ist 21 m² groß und hat eine komfortable alten- und behindertengerechte „Naßzelle“. Der Raum ist frisch renoviert, geschmackvoll und praktikabel in der Grundausstattung. Die mitgebrachten Bilder hängen bereits am nächsten Tag, und der Perserteppich liegt auch; TV, Fernsehsessel, Stehlampen und Memory-Nippes sind platziert. Der Schrank ist für die Garderobe der Mutter groß genug. Die Telekom hat die alte Rufnummer der Mutter umgeschaltet. Der Heimleiter ist sympathisch und versteht offenbar seinen Beruf als Berufung. Trotz der monatlichen 2.600 Euro (von denen die Pflegeversicherung 1.000 übernimmt) hat er keine Euro-Zeichen in den Augen.
 
Der Sohn hatte sich (und nur sich) versprochen, im Dom eine Kerze anzuzünden, falls alles ein gutes Ende nähme. Das macht man so in Köln (wie ja auch in Indien). Kerzen gab's nicht, nur die billigen Teelichter. Es war einer der peinlichsten Augenblicke im Leben des strenggläubigen Atheisten. Aber der Sohn hat’s getan und hinterher einen größeren Schein im Opferstock versenkt: Schaden kann’s nicht, und seine Versprechen sollte man schon halten.
 
 
© Niels Höpfner – Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis