Mieczysław Weinberg

Entdeckung eines Genies

von Peter Bilsing
Mieczysław Weinberg
 
Ganz große Musik eines zu Unrecht vergessenen
und hierzulande unbeachteten Komponisten
jetzt auf beachtenswerten CDs
 

W
enn nicht heuer in Bregenz die Oper „Die Passagierin“ eine Wiederentdeckung feiern würde, hätte sich wahrscheinlich kaum jemand in der klassischen Musikszene mit dem Namen Mieczysław Weinberg auseinandergesetzt. Was für ein Fehler, denn der geniale russische Komponist polnischer Abstammung war einer der interessantesten und heute praktisch vergessenen Komponisten der ehemaligen UdSSR. Kein Geringerer als Dmitri Schostakowitsch nannte ihn „einen der größten Komponisten des 20. Jahrhunderts“, und wer einmal in seine phantastische, fesselnde Musik hineingehört hat, wird sich ob der bisherigen Ignoranz der großen Klassikwelt seinem Namen und Œuvre gegenüber verwundert die Augen reiben.
 
Tragisches Schicksal

Was für ein tragisches Schicksal zeichnet seine Biografie: Schon Anfang des 20. Jahrhunderts waren Groß- und Urgroßvater bei einem Pogrom erschlagen worden. Nach dem deutschen Angriff auf Polen 1939 töteten die Nazis seine Eltern und seine Schwester. 1948 ermordete Stalins Geheimpolizei seinen Schwiegervater, den berühmten jüdischen Theaterdirektor und Schauspieler Solomon Michoels. Weinberg selbst wurde am 6. Februar 1953 verhaftet und unter verlogene antisemitische Anklagen gestellt. Stalins Tod einen Monat später rettete ihm das Leben. Er sollte danach noch 43 Jahre lang leben und in dieser Zeit eine nicht unbedeutende Position unter den sowjetischen Komponisten einnehmen. Er schrieb die fast unfassbare Zahl von 26 Sinfonien, dazu 7 Opern und mehr als ein gutes Hundert weiterer Werke, auch Filmmusik! Damit war er nicht nur einer der fleißigsten Komponisten, sondern auch einer der erfindungsreichsten des 20. Jahrhunderts. Humor und Tragik sind gleich wichtig in einem Schaffen, dessen Spannweite vom Requiem bis zur Zirkusmusik geht. Lyrik und Dramatik ergänzen sich in überzeugender neoklassizistischer Ton-Architektur zu einem Gesamtwerk von seltener und berührender menschlicher Tiefe - anmutiger als Schnittke und vielfach moderner als Schostakowitsch. Und wo fanden wir Musik dieses Genies in unseren Konzertsälen, die sich vielfältig, angeblich tolerant, aufgeschlossen und anspruchsvoll nennen? Ich habe in 50 Jahren nicht ein Stück von ihm in unseren Gefilden gehört! Es ist ein Skandal, eine Schande.
 
Musik als Ausdruck humanistischer Haltung

1943 vollendete Mieczysław Weinberg seine 1. Sinfonie. Die Komposition sandte er an sein Vorbild Schostakowitsch, der ihm voller Begeisterung eine der raren Aufenthaltsgenehmigungen für die Hauptstadt besorgte und ihn sofort nach Moskau einlud, wo Weinberg bis zu seinem Tod 1996 blieb. Es entstand eine tiefe Freundschaft, von der beide Komponisten in der einen oder anderen Weise auch musikalisch profitierten. Ihre Verbindung ging weit über das Verhältnis Lehrer-Schüler hinaus. Weinberg: „Obwohl ich nie bei ihm Unterricht nahm, zähle ich mich als seinen Schüler, sein Fleisch und Blut." Ebenso wie Schostakowitsch könnte man auch Weinberg als einen konservativen Modernisten bezeichnen. Viele seiner Werke beschäftigen sich immer wieder mit dem jüdischen Schicksal, indem sie die Tragik der Kinder inmitten von Krieg und Morden mit bemerkenswertem Mitgefühl schildern und so seine allgemeine humanistisch pazifistische Einstellung enthüllen. „Viele meiner Werke befassen sich mit dem Thema des Krieges. Dies war leider nicht meine eigene Wahl. Es wurde mir von meinem Schicksal diktiert, vom tragischen Schicksal meiner Verwandten. Ich sehe es als meine moralische Pflicht, vom Krieg zu schreiben, von den Greueln, die der Menschheit in unserem Jahrhundert widerfuhren." Ein beeindruckender Satz, der auch von Schostakowitsch stammen könnte.
 
Dies gilt auch für Weinbergs absolute Musik, also für jene Werke, denen keine oder zumindest keine veröffentlichten Programme oder Texte unterliegen, stellenweise recht spätromantische Musik die unter die Haut geht und die wie jene seines Freundes Schostakowitsch von allen einfühlsamen Menschen verstanden wird.
Immerhin 37 Einträge verzeichnet „Amazon“ International auf die Anfrage nach CDs des Komponisten. Wegen ihres Raritäts-Charakters werden die Silberscheiben zu unglaublich hohen Preisen angeboten und gehandelt – 100,- € sind da keine Seltenheit. Ich möchte hier einige preislich im Normalbereich liegende Angebote loben, wobei an erster Stelle das Label CHANDOS zu nennen wäre, wo man langsam aber zielstrebig auf eine Gesamt-Edition der Sinfonien zusteuert. Alle haben es verdient veröffentlicht zu werden.
 
Chmuras begnadetes Dirigat

Gabriel Chmura – ein begnadeter Dirigent, den ich noch als GMD des Aachener Opernhauses und Leiter des Bochumer Sinfonieorchesters kenne, hat mit seinem Hausorchester „National Polish Radio Symphony Orchestra Katowice“ bisher die Sinfonien 1, 2, 4, 5, 14 und 16 in hervorragender Qualität eingespielt. (3 CDs: CHANDOS 10128, 10237, 10334). Dazu gibt es auf der zweiten CD noch die Sinfonietta No.2 und die „Rhapsody on Moldavian Themes“.
Chmura ist mit seiner besonderen Affinität zu Mahler mehr als alle anderen geeignet, den Duktus und die teilweise gewaltigen Klangmassen in ihrer Exzessivität zu bändigen und auch die Stringenz der kammermusikalischen Stellen ausgiebig und wunderbar zu zelebrieren. Er läßt einen Spannungsbogen erklingen, der nie abreißt. Technisch sind die CDs auf neuestem Stand.
 
Das Leiden durch Julia Rebekka Adler hörbar gemacht

Für die Freunde der Kammermusik und des stillen Leidens, wobei ich den Begriff „Leiden“ hier als ein tiefes Ausdrucksparameter von Weinbergs Musik verwendet sehen möchte, spreche ich einem kleinen Juwel von NEOS Music (Neos 11008/09) eine Empfehlung aus: Julia Rebekka Adler hat alle Viola-Sonaten von Mieczyslaw Weinberg eingespielt (einige sogar als Erstveröffentlichung); dazu die Sonate für Klarinette und Klavier op. 28 und als Zugabe die Sonate für Viola Solo von Druzhinin. Letzteres sicherlich eines der schwierigsten Werke für Bratsche überhaupt. Die beiden CDs geben tiefe Einblicke in die verschiedenen Schaffensperioden des Komponisten, denn hier hört und spürt man tief ausgelotet die „leidende“ Seele des Komponisten.
Wer den wunderbaren Stil und das geniale Einfühlungsvermögen, sowie die ungeheure
Ausdrucksstärke dieser Bratschistin auch optisch wahrnehmen möchte, dem seien einige Einspielungen auf You-Tube empfohlen. Julia Rebekka Adler ist eine sympathische Frau, die praktisch mit ihrem Instrument eins wird. Selten habe ich jemanden so konzentriert hören und spielen sehen. Wenn sie Weinberg spielt, dann leidet sie geradezu kongenial mit. Eigentlich müßten sich die großen Orchester um diese Ausnahmekünstlerin reißen - oder liegt es am allzu einfältig durchgeprügelten Dauer-Beethoven, daß wir gerade solche Stücke für dies wunderbare Instrument so selten in den Konzertsälen zu hören bekommen?
 
Nach dem Genuß der beiden CDs von Julia Rebekka Adler bin ich nicht nur zum überzeugten Weinberg-Fan geworden, sondern ich werde auch der oft allzu vernachlässigten Musik für Bratsche künftig mehr Hör-Raum zubilligen. Zwei Scheiben, die jeder ernsthafte Musikfreund sein Eigen nennen sollte Da ich kein Bratschist bin und auch musiktechnisch hier Neuland betrete, möchte ich in diesem Zusammenhang auf die hervorragende Kritik meines Kollegen Dr. Stefan Drees bei www.Klavier.de hinweisen. Aufnahmetechnisch übrigens ebenfalls perfekt. Ein Doppel-Album mit Ausnahme-Charakter, für das ich glatte 5 Sterne vergebe, denn traumhafter kann man auf diesem Instrument wohl kaum die Tiefen und Untiefen unseres Lebens ausleuchten. Spitzenklasse!
 
Weitere Informationen unter: www.neos-music.com  und  www.chandos.net  
sowie www.deropernfreund.de

Redaktion: Frank Becker