Zimmer 102

Eine Sinfonie der Trostlosigkeit

von Frank Becker

Foto © Jürgen Kasten
102

Eine Sinfonie der Trostlosigkeit

Weise Menschen sagen, man könne zwar die Uhren zurückstellen (machen wir ja alle Jahre einmal), unmöglich aber sei es, die Zeit zurückdrehen. Bis heute bin ich dieser Meinung gefolgt. Bis heute. Nun aber weiß ich, daß es geht und kenne den Kniff, den man anwenden muß, um wie mit einem Fingerschnipp, na sagen wir mal in die Zeit von vor ca. 45 Jahren zurückzukehren. Ja, das geht - aber ein Vergnügen ist es nicht.

Die Zeitmaschine, von der ich spreche, ist nicht von H.G. Wells entworfen, sondern ein Hotelzimmer, eines mit der Nr. 102, um genau zu sein. Sie finden es - ein Anachronismus sondergleichen - in einem Vier-Sterne- Hotel im Südtiroler Tiersertal, das ansonsten mit eleganten, niegelnagelneuen ruhigen Zimmern, geräumig verglasten Naturstein-Regenduschen, feinstem Holz und mit Rosengarten-Blick aufwartet. Ein Hotel, das eine erstklassige Küche pflegt, seine Gäste mit exquisitem Frühstücks-Büffet verwöhnt und über einen erlesenen Sauna-Bereich mit Innen- und Außenschwimmbad verfügt, von dem aus man im temperierten Wasser dümpelnd das vom Sonnenuntergang angeleuchtete Gebirgswunder Rosengarten betrachten kann.

Foto © Frank Becker

Aber dann: Zimmer 102. Ein Zeitsturz zurück in vergessene Welten. Dunkel, kleines Fenster mit Blick auf ein Mäuerchen der Hotelfassade, mit einer Einrichtung aus den Anfangstagen des Hotels, ja der Hotellerie schlechthin, als Wanderer noch genügsam waren und mit derben Sitzbänken, einfachster Bad-Ausstattung und 60 x 60 cm großen, klapprigen Duschkabinen zufrieden waren. Das muß vor beinahe einem halben Jahrhundert gewesen sein. Seither hat, mal abgesehen von den guten Matratzen des in einen finsteren Winkel gezwängten Bettes und den matten Sparbirnen keine modernisierende Hand dies Zimmer je berührt. Einen Balkon hat es immerhin, der über dem Eingang des Hotels, via-a-vis dem Parkplatz und gegenüber der beliebten Paßstraße liegt, zu deren Anstieg die Motorrad-Touristen gerne noch mal am Gashebel drehen. Des Morgens genießt der Gast, der nicht schon um 06.00 Uhr zu einer Wanderung aufgebrochen ist, das Stiefel- und Stuhl-Gepolter aus dem Zimmer darüber, An- und Abreisen vor dem Haus und den morgendlichen Lieferdienst für die Küche.

Am Abend hat er dafür die Abwechslung, in der Stille der Bergwelt jeden spät heimkehrenden Gast begrüßen zu können, der noch ein wenig unter dem Balkon plaudert und so nicht, tut die unmittelbar unter seinem Zimmer

Foto © Frank Becker
liegende gut frequentierte Bar des Hotels (der Gewürztraminer dort ist sehr zu empfehlen) das ihre. Da schallen ungedämpft Gespräch, Witze, Gelächter mit identifizierbaren Stimmen, Stühlerücken und zu ganz später Stunde, wenn der Gebeutelte endlich in den Schlaf gefunden hat, nächtliches Aufräum-Ruzmpeln hinauf in sein Verlies. Er möchte lesen, um sich abzulenken. Allein, das Lämpchen an der Bettseite ist so niedrig angebracht, daß es nicht auf sein Buch, sondern in seine Augen leuchtet. An Schlaf ist - wir sind in den Bergen, der Natur, notabene! - nur mit Ohropax zu denken. Den bestellten Weckruf (pünktlich!) am nächsten Morgen wird er nicht beantworten können, denn das Telefon ist intelligenterweise nicht am Bett - (das nebenbei aus Platzmangel nicht einmal über einen Nachttisch verfügt) - sondern um einen Raumteiler herum unerreichbar installiert.

Zerschlagen und von Alpträumen gemartert wankt der zerrüttete Zimmerbewohner endlich zu früher

Foto © Frank Becker
Stunde - der Schlaf hat ihn ohnehin längst geflohen - in das etwa 110 x 210 cm messende fensterlose Kabinettchen, einen engen Schlauch, der sich kühn "Bad" nennt. Ein kleines Waschbecken mit Sprung, samt Wasserhahn viel zu tief angebracht, eine Toilette mit Billig-Brille
und einlagigem Klopapier, die Duschkabine mit der Grundfläche von vier Langspielplatten (die Schiebetüren schließen nicht mehr richtig), ein tief herunterhängender Handtuchhalter mit sehr viel Spiel in den ermüdeten Befestigungsschrauben, Sparsamst-Ausstattung - und... man faßt es nicht: lind/grasgrüne, rosa geblümte Uralt-Fliesen begrüßen mit einer Sinfonie der Häßlichkeit den nun auch ästhetisch gebeutelten Gast. Jetzt Vorsicht und Umsicht: mit viel Fingerspitzengefühl läßt sich beim 14. Versuch die ausgeleierte, mit Murphy´scher Zuverlässigkeit hinunterrutschende Brause oben an der Duschstange fixieren. Wenn man mit seinen Bewegungen sorgsam umgeht, stößt man nur selten an die Wände der winzigen Duschkabine, und gleiche Sorgfalt beim Abfrottieren verhindert Ellbogenkontakt mit den fürchterlichen Kacheln aus den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Was der Sache einen gewissen Witz, ja Pikanterie verleiht, ist die verblüffte und den Reisenden verblüffende Reaktion des mit den Fakten konfrontierten Hoteliers - ein ansonsten wirklich netter Mensch, dessen Vater einst das Unternehmen gründete: das höre er zum ersten Mal und nie zuvor habe sich jemand negativ über den Standard dieses Zimmers, über jedweden Lärm und überhaupt geäußert. Recherchen in der Branche vor Ort ergaben, daß dies und vier weitere Zimmer des ursprünglichen, längst erweiterten (4-Sterne)- Hauses noch über den seit 40 Jahren überholten Standard verfügen. Entgegen gutem Rat der lokalen Hotelbranche - Tiers/St. Zyprian lebt von der Hotellerie - werden sie wider jede Einsicht immer noch gegen gutes Geld vermietet, wiewohl sie allenfalls zwei Sternchen wert wären. Wünschen wir dem Haus keinen verdeckten Hotel-Tester - es könnte glatt einen Stern kosten. Soviel Chuzpe verlangt nach Anerkennung. Die möchte ich dem mutigen Haus mit dieser Reverenz an Zimmer 102 zollen.


Foto © Frank Becker