Im Anfang war das Wort...

Martin Kuckenburg - "Wer sprach das erste Wort?"

von Friederike Hagemeyer
„Im Anfang war das Wort…...“ (Joh. 1,1)
 
Die Ursprünge von Sprache und Schrift
 
Von Friederike Hagemeyer
 
Hat der Neandertaler gesprochen? – Ist er vielleicht sogar mit uns verwandt? - Ausdauernd und engagiert wird diese Frage immer wieder in Fachkreisen erörtert und auch in der Öffentlichkeit leidenschaftlich diskutiert. Denn mit ihrer Beantwortung hängt aufs engste die Frage nach dem Beginn unserer menschlichen Kultur, ja unserer Identität zusammen.
Als am 7. Mai dieses Jahres das Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie (http://www.eva.mpg.de/german/index.htm ) seine neuesten Forschungsergebnisse zur Analyse des Neandertaler-Genoms vorstellt, gleicht das einer Sensation: „Menschen und Neandertaler haben sich ... vermischt“.
 
 Der Vergleich des Neandertalergenoms mit dem Erbgut heute lebender Menschen zeigt aber auch, daß unsere Vorfahren mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit über Sprache verfügten. Erste Zweifel an der Sprachlosigkeit des europäischen Urmenschen waren bereits 1983 aufgetaucht, als in Israel ein Neandertalerskelett ausgegraben wurde, bei dem das Zungenbein erhalten war. Die anatomischen Voraussetzungen für Sprache waren also gegeben. Das Leipziger Forschungsteam entdeckt nun, daß mit ziemlicher Sicherheit auch die geistigen Voraussetzungen vorhanden waren, denn die Baustein-Abfolge des Sprachgens sind beim heute lebenden Menschen und beim Neandertaler völlig identisch.
 
Sprache  -  Kommunikationsmittel früher Jägergruppen
 
In seinem Buch „Wer sprach das erste Wort?“ (erschienen 2010 im Stuttgarter Konrad-Theiss-Verlag) stellt Martin Kuckenburg verschiedene Lehrmeinungen  zur menschlichen Sprachentwicklung vor. Seit 1987, als amerikanische Forscher glaubten herausgefunden zu haben, daß alle heute existierenden Menschen von der vor ca. 180.000 Jahren lebenden „afrikanischen Eva“ abstammen, sprachen sich immer mehr Forscher ebenfalls für eine abrupte Entstehung von Sprache aus  -  und zwar erst seit dem frühen Homo sapiens, also vor ca. 160.000 Jahren.
Im Herbst 2002 schreibt „Der Spiegel“ (http://www.spiegel.de/) dazu: „Die Hirnleistung der Hominiden, und damit wohl auch die Sprachbegabung, muß Hunderttausende von Jahren ziemlich beschränkt gewesen sein..... Über eine Million Jahre ... klopfte (der Urmensch) stumpfsinnig auf Steinen herum.“ Und weiter heißt es: „Erst diese geistige Fähigkeit (die Sprache) ...ermöglichte es ihm, komplizierte Werkzeuge und Waffen zu bauen, mit denen er seine Konkurrenten aus dem Wege schlug  -  etwa die Neandertaler.“    Mit Recht kritisiert Martin Kuckenburg (S.75) die „vollmundig formulierende(n), in der Sache aber uninformierte(n) Journalisten“. Und, so ist hinzuzufügen, welche Arroganz des ach so „modernen Menschen“ spricht aus diesen Passagen! Etwas mehr Bescheidenheit, bitte!
 
Schrittweise Evolution der Sprache
 
Martin Kuckenburg kannte bei der Arbeit an der 2. Aufl. seines Buches die aktuellen  Ergebnisse aus Leipzig noch nicht, aber sie deuteten sich bereits an. So vertritt er denn eine wesentlich differenziertere Auffassung von der menschlichen Sprachentwicklung: die Evolution der Sprache sei ebenso schrittweise und allmählich vom Einfachen zum Komplexen verlaufen, wie die Entwicklung der Steingeräte. Die Herausbildung der Sprache beginnt nach Kuckenburg schon bei den Faustkeilherstellern vor ca. 700.000 bis eine Million Jahren, d.h. beim Homo erectus, dem (vermutlichen) Vorläufer des Neandertalers. Nach Meinung vieler Fachleute beruhen Werkzeugproduktion und Sprache auf miteinander korrespondierenden geistigen Fähigkeiten, deren neurologische Grundlagen sich im Verlauf der Evolutionsgeschichte Hand in Hand entwickelt haben dürften.
 
Erste kulturelle Blütezeit vor ca.1 Million Jahren
 
Kuckenburg geht noch einen Schritt weiter; anders als die z.Zt. vorherrschende Gelehrtenmeinung, die in der „jungpaläolithischen Revolution“ vor 40.000 Jahren -  zu dieser Zeit wanderte Homo sapiens nach Europa ein - die erste kulturelle Blüteperiode der Menschheit sieht, datiert er den ersten „kulturellen Big Bang“ auf die Zeit des Homo erectus; der konnte bereits wunderschön gearbeitete Faustkeile, Geräte aus Knochen und Geweih - oft erst dem frühen Homo sapiens zugeschrieben  - hölzerne Speere, die heutigem Olympiastandard entsprechen, einfache Behausungen und möglicherweise auch schon einfache Fellbekleidung herstellen. Höchstwahrscheinlich gab es aber auch schon eine einfache Arbeitsorganisation, die geplante Gruppenjagd auf Tierherden und Großwild und nicht zuletzt die kontrollierte regelmäßige Nutzung des Feuers - man kann Kuckenburg nur zustimmen, daß diese kulturellen Leistungen ohne die Sprache, „das charakteristische Instrument des Menschen zur Tradierung seiner Kultur“ kaum vorstellbar sind.
 
Wortschrift  -  Kommunikationsmittel städtischer Hochkulturen
 
Gegenüber der Sprache ist unser zweites Hauptkommunikationsmittel vergleichsweise jung - es entstand vor ca. 5.000 Jahren. Vorläufer schriftlicher Aufzeichnungen tauchen auf, als die Menschen von der Jagd- und Sammelwirtschaft zu Ackerbau und Viehzucht übergehen. Es ist die Zeit, in der erste dörfliche, später auch städtische Siedlungen in Mesopotamien entstehen.
 
Tonmarken als Hilfe zur Buchführung
 
Kleine Tonmarken, sogn. „tokens“, liefern erste Hinweise auf die Ursprünge der Schrift. Diese besonders sorgfältig gearbeiteten kleinen Tongegenstände lassen sich durchgehend für die Zeit zwischen 8.000 und 3.000 v. Chr. in fast allen Siedlungsplätzen des Vorderen Orients nachweisen. Durch systematischen Vergleich einer Vielzahl von Stücken kam die amerikanisch-französische Archäologin Denise Schmandt-Besserat 1977 zur Erkenntnis, daß es sich dabei um Hilfsmittel zur Registrierung von Gütern, d.h. zur Buchführung handelt; Marken mit gleicher unverwechselbarer Kennzeichnung stehen immer für ein bestimmtes Gut, z.B. für Schafe, Rinder oder Getreide. 1992 faßte sie ihre Untersuchungsergebnisse zusammen: In Vorderasien ging die Schrift aus einer jahrtausendelangen Entwicklung der Datenspeicherung und Buchführung mit Hilfe von Tonmarken hervor.  -  Hinter der Erfindung der Schrift steht also kein hehrer Gedanke, kein spirituelles Streben nach persönlicher Verewigung, kein historisches Bemühen um dauernde Fixierung von Ideen und Ereignissen, sondern schiere reine Zweckmäßigkeit, das praktische Bedürfnis nach Datenspeicherung; die Aura des Geheimnisvollen und Erhabenen um die Ursprünge der Schrift – dahin!
 
Keilschrift  -  internationales Kommunikationsmittel
 
Bis zur Ausformung einer wirklichen (Wort-)Schrift müssen noch einige tausend Jahre vergehen. In Uruk am unteren Euphrat werden 1928 die ältesten  Schriftzeugnisse von etwa 3.200 v.Chr. gefunden. Die Zeichen gleichen zum Teil kleinen naturalistischen Skizzen von Pflanzen, Tieren oder Gegenständen; zum Teil aber gibt es auch stark stilisierte abstrakte Zeichen, deren Inhalt sich nicht ohne weiteres erschließt. Diese Wort- oder Begriffsschrift umfaßte vermutlich 1.200 Zeichen, aus denen viel später die Keilschrift entstehen wird. Die archaischen Symbole lassen sich zwar verstehen, (laut) lesen aber nicht; der Klang der Sprache ist in diesen Zeichen nicht enthalten. Es bleibt ein Geheimnis, welche Sprache das Volk von Uruk wirklich sprach.
Die archaischen Schriftzeugnisse überliefern nüchterne Inhalte: Stückzahlen von Vieh, Einnahmen und Ausgaben von Getreide, die Zuteilung von Lebensmitteln an Arbeitskräfte und Beamte und ähnliches. Religiöse, literarische, gesetzgeberische und historische Werke bleiben noch lange der mündlichen Überlieferung vorbehalten. Der berühmte Gesetzeskodex des Hamurabi wurde Ende des 2. vorchristlichen Jahrtausends aufgeschrieben und die älteste bekannte Abschrift des Gilgamesch-Epos stammt aus dem 1. Jahrtausend v. Chr. Sie liegen nun schon in der ausgereiften assyrischen Keilschrift vor, deren Wortzeichen keine Ähnlichkeit mehr mit den frühen Zeichen von Uruk haben.
Auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung wird die Keilschrift zum Medium der Diplomaten: internationale Verträge werden in Keilschrift fixiert, wie das Beispiel des Friedensvertrages zwischen Ramses II. von Ägypten und Hattusili III., König des Hethiterreiches, vom  21. November 1259 v. Chr. zeigt. Auszüge dieses Vertrages hängen in Kopie im UNO-Gebäude in New York.
Seit der Wende zum 1. Jahrtausend v.Chr. erwuchs der Keilschrift jedoch ein letztlich siegreicher Konkurrent, die von der Ostküste des Mittelmeers stammende phönizische Buchstabenschrift. Der letzte bekannte Keilschrifttext stammt aus dem Jahr 74/75 n. Chr.
 
Buchstabenschrift  -  Kommunikationsmittel der Moderne
 
Die Keilschrift war ein kompliziertes, schwer zu beherrschendes Schriftsystem, das mehrere hundert Zeichen umfaßte. Davon lebte die einflußreiche Berufsgruppe der Schreiber mit engen Beziehungen zur Tempelpriesterschaft und zum Hof des Königs;  die Keilschrift kann deshalb auch als das typische Kommunikationsmittel mächtiger Königreiche mit ausgebauter zentralistisch organisierter Hof- und Tempelbürokratie angesehen werden.
 
Praktischer Bedarf an einfachem Schriftsystem
 
Politisch völlig anders strukturiert zeigte sich die Levante um die Mitte des 2. Jahrtausends v.Chr. Auf dem Gebiet Palästinas, des Libanons und Westsyriens waren unabhängige blühende Handelsstädte entstanden, die zwar häufig zum Zankapfel der sie umringenden Großmächte wurden, doch konnten sie sich auch eine Schlüsselstellung im internationalen Handel erobern. Das brachte ihnen Reichtum und ökonomische Macht. Handelsrouten aus allen Himmelsrichtungen liefen hier zusammen.
Es muß ein quirliges Sprachgewirr in den Städten des östlichen Mittelmeers geherrscht haben, denn zur kanaanäischen Stammbevölkerung kamen Angehörige aus mehr als einem halben Dutzend Völkern, ein Schmelztiegel unterschiedlichster Kulturen. Jeder fremde Diplomat, Kaufmann oder Handwerker brachte sein Schrift- und Registrierungssystem aus der Heimat mit.
Es ist gut vorstellbar, daß in diesem Milieu das Bedürfnis nach einem einfach anzuwendenden Kommunikationsmittel entstand, das darüber hinaus die Möglichkeit bot, auch fremdsprachige Orts- und Personennamen sowie Bezeichnungen für exotische Waren zu notieren.
Auf die Mitte des 2. vorchristlichen Jahrtausends lassen sich in der Levante, dem antiken Phönizien, die ersten Experimente mit einem einfacheren, flexibler gestalteten und leistungsfähigeren Schriftsystem datieren. Die grundlegende Neuerung bestand darin, daß das phonetische Prinzip konsequent angewandt wurde  -  mit der wesentlichen Einschränkung, daß nur die Konsonanten eigene Zeichen erhielten. Im Prinzip ist das in der hebräischen und arabischen Schrift bis heute so geblieben. Erhalten blieb in beiden Schriftsystemen auch die Schreibrichtung von rechts nach links. Mit der phönizischen Buchstabenschrift stand nun ein leicht erlernbarer Bestand von 30 Zeichen zur Verfügung, der es erlaubte, auch fremdsprachige Worte aufzuschreiben, und  -  ein nicht zu unterschätzender Vorteil  -  die Kaufleute und Unternehmer von teuren Schreibern unabhängig machte. Um 1100 v.Chr. hatte sich die phönizische Schrift bereits im ganzen Levantegebiet durchgesetzt und ältere Schriftsysteme verdrängt.
 
Das griechische Alphabet  -  ungeklärte Anfänge
 
Wann, wo und wie aber kamen die Griechen zu ihrem Alphabet, aus dem unsere lateinische Schrift hervorging?    Keine dieser Fragen kann bisher zweifelsfrei beantwortet werden. Aus dem 8. Jahrhundert v.Chr. liegt das älteste griechische Schriftzeugnis vor; aber war das wirklich der Anfang? Einige Forscher nehmen einen wesentlich früheren Zeitpunkt für die Übernahme der Buchstabenschrift an. Ob die neue Schrift von griechischen Kaufleuten aus der Levante mitgebracht wurde oder ob es eher phönizische Handwerker waren, die sich im griechischen Mutterland niederließen, auch das ist nicht eindeutig geklärt. Geklärt ist schließlich auch nicht, auf welchem Vorläufer die griechische Schrift beruht. Denn die aus der entwickelten phönizischen Schrift hervorgegangenen Schriftsysteme in Vorderasien haben alle die Schreibrichtung von rechts nach links von ihrem Vorbild übernommen. Dagegen weisen sehr frühe griechische Schriftzeugnisse eine charakteristische Abweichung auf, die Schreibrichtung wechselt von Zeile zu Zeile. Nur die altkanaanäische Schrift zeigt gleichfalls dieses Charakteristikum. Sollte also der Vorläufer der griechischen Schrift gar nicht das klassische phönizische Alphabet sein?  -  Fragen über Fragen! – Die wesentliche zukunftsweisende Änderung jedoch, die die Griechen vornahmen, war die Einführung eigener gleichberechtigter Zeichen für die Vokale, sodaß nun eine rein phonetische Schrift entstand. Die Schreibrichtung verlief bald von links nach rechts, wie wir es heute noch kennen. Bestehen ließ man die Reihenfolge der Buchstaben und die Namen: aus „’aleph“ wurde „alpha“, aus „beth“ wurde „beta“ und so fort. Mit der griechischen Kolonisierung gelangte das Alphabet in den westlichen Mittelmeerraum und erreichte vermutlich über die Etrusker das Gebiet von Latium und die Stadt Rom. Als lateinische Schrift wurde sie zum beherrschenden Schriftsystem Europas und der westlichen Welt.
 
Komplizierte Zusammenhänge - für Laien verständlich dargestellt
 
Martin Kuckenburg legt ein Sachbuch vor, das man nicht so schnell wieder aus der Hand legt, hat man einmal begonnen, darin zu blättern. Als routinierter Wissenschaftsjournalist und Fachmann - er studierte Ur- und Frühgeschichte -  kennt er sich in diesem Bereich aus, und er weiß den Leser zu fesseln. Die Entwicklung von Sprache und Schrift beschäftigt ihn schon länger, die Deutsche Nationalbibliographie verzeichnet - neben weiteren 10 Titeln zu anderen Gegenständen - zwei früher erschienene Monographien zu diesem Thema, teils auch in verschiedenen Auflagen.
Der Autor formuliert flott, ohne plakativen Vereinfachungen zu erliegen. Ihm gelingt die Kunst, komplizierte Zusammenhänge differenziert und für Laien verständlich darzustellen.
Inhaltlich konzentriert er sich auf die Keilschrift und die ägyptischen Hieroglyphen; in kürzeren Exkursen werden aber auch andere Schriftentwicklungen berücksichtigt, beispielsweise die Entstehung der Schriftsysteme in Asien und Altamerika, und auch die mythenumwobene Runenschrift der Germanen ist ihm einen Abschnitt wert.
Der beschriebene Forschungsstand ist so aktuell wie möglich. Seit der 1. Auflage von 2004 wurde das Buch überarbeitet, insbesondere das Literaturverzeichnis um allerneueste Titel ergänzt. Die Anmerkungen sind wohltuend knapp gehalten und geben lediglich Hinweise auf spezielle Literatur. Abbildungen und Übersichten (s. insbesondere S. 214 die Übersicht über die Entwicklung der Buchstabenschrift) machen den Text anschaulich.
Dem Autor ist ein spannendes Sachbuch gelungen, dem viele Leser zu wünschen sind.
 
 
Martin Kuckenburg: Wer sprach das erste Wort? Die Entstehung von Sprache und Schrift. – 2. aktualisierte Auflage/Sonderausgabe.
2010 Konrad Theiss Verlag, Stuttgart, 254 S., gebunden, 94. Abb.,
ISBN 978-3-8062-2330-9
14,90 €
Weitere Informationen unter: www.theiss.de

Redaktion: Frank Becker